Von der Endlichkeit der Sprache

Alles sei schon einmal dagewesen, alles sei bereits gesagt: Die Einsicht ist nicht neu − man kann sie mit Skepsis, aber auch mit Erleichterung quittieren. Für Literaten und allgemein für Kunstschaffende, wohl ebenso für Philosophen war sie stets eine Herausforderung, weil sie dem Bedürfnis nach Originalität und Innovation entgegensteht. Die europäische Moderne ist mit ihren zahlreichen Neuerungen souverän darüber hinweggegangen, die Postmoderne hat sie genutzt, um das „Schöpfertum“ durch Synkretismus, spielerische Imitation oder provokante Plagiate zu substituieren und die Kopie zum „Werk“ aufzuwerten.
Tatsache ist, dass – in jeder Einzelsprache und in allen Sprachen insgesamt − die Anzahl der Wörter, der möglichen Wortkombinationen, mithin der möglichen Sätze (oder Aussagen) endlich ist, also früher oder später erschöpft sein wird. Die Einführung von neuen Begriffen für neue (niedagewesene oder neu entdeckte) Objekte, Ideen und Befindlichkeiten kann diesen Prozess allenfalls verlangsamen, nicht aber aufhalten.
Irgendwann werden die Kombinationsvarianten des sprachlichen Ausdrucks und damit die Innovationsfähigkeit der Sprache als solcher ihren Grenzwert erreichen. Die zunehmende, selbst in literarischen Texten zu beobachtende Klischeehaftigkeit und Redundanz des alltäglichen Sprachgebrauchs weisen offenkundig darauf hin.
Bleibt die Frage, ob und inwieweit die sprachliche Kommunikation dem raschen Wandel und der wachsenden Komplexität der aktuellen Lebens- und Geisteswelt noch gerecht werden kann. Die Sprache selbst, als anthropologische Konstante, wird nicht verschwinden und nie adäquat ersetzbar sein, doch ihr Formenreichtum könnte sich drastisch vermindern zu Gunsten nichtverbaler – bildnerischer, graphischer, numerischer – Daten- beziehungsweise Wissensübertragung.
Müsste man, falls dieser Trend sich durchsetzt, von einem Verlust reden? Und was eigentlich hätte man dann tatsächlich verloren?

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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