Eugen Gomringer, Zsuzsanna Gahse und Nora Gomringer: Zu Eugen Gomringers Konstellation „avenidas“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Eugen Gomringer Konstellation „avenidas“ aus Eugen Gomringer: Konstellationen. –

 

 

 

 

EUGEN GOMRINGER

avenidas
avenidas y flores

flores
flores y mujeres

avenidas
avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres y
un admirador

 

avenidas

die erste publikation dieser konstellation fand 1953 in der von marcel wyss, dieter roth und mir in bern gegründeten künstlerzeitschrift spirale statt.1 schon mit ihrer ersten nummer unternahmen die herausgeber das experiment der parallelen demonstration von poesie und bildender kunst. im gleichen jahr erschien im gleichnamigen verlag ein erster gedichtband von mir mit dem titel KONSTELLATIONEN mit gedichten in englischer, deutscher, französischer und spanischer sprache. die hier besprochene konstellation erschien ohne den titel AVENIDAS ebenfalls in der gedichtsammlung. in der spirale 1 fand sie auf der linken seite der anfangs grossformatigen ausgabe der zeitschrift ihren platz und stand gegenüber dem auf der rechten seite abgedruckten holzschnitt von josef pillhofer. meine konstellation trug den titel CIUDAD (stadt). in allen späteren ausgaben oder erwähnungen wurde sie ausser in der ersten gesamtausgabe WORTE SIND SCHATTEN. DIE KONSTELLATIONEN 1951–1968 im rowohlt verlag jeweils ohne titel gesetzt. im rowohltband hatte sie noch den titel. diese gewisse gleichgültigkeit im hinblick auf eine überschrift hatte ihren grund vornehmlich darin, dass es trotz der fast erkennbaren wiedergabe einer der bekannten avenidas in barcelonas altstadt sich nicht um eine abbildung handeln konnte, sondern dass dieser bezug mit „flores“ (blumen) und „avenidas“ (strassen) als wortmaterial diente und nur in einiger entfernung das reale motiv herangezogen worden war.
welche bedeutung genau dieser konstellation spanischer worte von mir zugemessen wurde, mag zwar auch der erinnerung an die spanische muttersprache geschuldet sein, mehr jedoch war es die wohllautende wiederholung der worte, die auch alsbald sozusagen schule machte und weltweit zu einem der prototypen der neuen konkreten poesie erklärt wurde. sie dient in meinem ersten manifest 1955 VOM VERS ZUR KONSTELLATION als elementares beispiel der neuen gedichtform konstellation, anhand derer die performative operation vorgeführt wird. wie selbstverständlich der weg zur anonymen bedeutung seit einem halben jahrhundert begangen wird, zeigt der titel des verdienstvollen kleinen bandes gesammelter essays, sonette (der nachfolgedichtung meiner konstellationen), kurztexte, der 2012 in berlin bei matthes & seitz herauskam: admirador – es ist das schlusswort der konstellation, ohne dass diese als ganzes in dem band abgedruckt ist. es hat demnach das schlusswort für einen weit umfangreicheren inhalt – pars pro toto – zu sein.
nicht selten beantworte ich fragen nach der konkreten poesie mit der konstellation aus den vier substantiven, dem bindewort „y“ und dem unbestimmten pronomen „un“, dabei geht es, wie gesagt, nicht um den realbezug, sondern um die wahrnehmung der interessanten form des zeichens „y“, also des deutschen „und“. mit seiner verzweigung macht es förmlich aufmerksam auf das zusammenführen von einer vokabel links zur vokabel rechts. es ist eine visuelle information in einem visuellen konkreten gedicht. mit solchen hinweisen kann der einstieg in die zeichenstruktur eines konkreten gedichts beginnen.

Eugen Gomringer, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays, Nimbus, 2018

Wortgestalten

In den Hauptrollen stehen vier Wörter (solang man von den freundlichen Splittern y und un absieht). Zwei der vier sind voller Duft, duftend vor allem las flores, die Blumenfülle, wohl aber auch las mujeres, die künstlich oder natürlich duftenden Frauen. Sie hauchen und werden schon vom Wort her angehaucht (weil die mujeres für die deutschen Ohren als muheres dargestellt werden sollten, wenn nicht gleich als mucheres).
Diesen Düften folgt der staunende Betrachter mit seinem großartigen A, mit einem großen, offenen, romanisch atmenden A in jeder avenida. Hay que admirarla, hay que admirar la avenida.
Kaum kann man sich sattsehen an den Blumen und an den Frauen (meint ein männlicher Bewunderer). Er meint keinesfalls, dass man die flores oder die mujeres anbeten sollte, sondern er schaut und schaut, sieht und sieht, betrachtet und betrachtet die Blumen und die Frauen in den avenidas. Der admirador kann sich kaum sattsehen. Mirar y mirar es admirar, der admirador ist ein Langzeitschauer. Sein A ist ein herrlich offener, südlich offener Laut, ein Vokal, der aus voller Lunge rufen kann. Vocare!
Dass ein Vokal, insbesondere das A, unumwunden rufen kann, habe ich zwar in anderem Zusammenhang schon beschrieben, aber das A-Vocare kann man nicht oft genug hervorheben und kann es nicht satt bekommen, angesichts der avenidas erst recht nicht,

y por eso soy la admiradora del admirador con sus flores y mujeres,

und jetzt müsste ich mich dem guten, widerständigen R zuwenden, das in den Zeilen des admiradors vielfach herbeirollt.

Zsuzsanna Gahse, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays, Nimbus, 2018

Zu AVENIDAS2

Hängen wir alles mal tiefer. Bodennah sozusagen. Ein Gedicht ist vor sechs Jahren auf einer Wand aufgetaucht, weil es sich jemand dahin gewünscht hatte. Die Wünschende hat niemanden dazu befragt, hat ihrem Urteil, dem Ruf des Dichters, der Qualität des Textes getraut. Nun hängt es da, erfreut viele, erzürnt manche. Der Text ist – dabei bleibe ich – null agitativ. Es ist daher beachtlich, was man in sechs Worte hineinlesen kann und für wieviel Wirbel sechs Worte, die keine Vulgärausdrücke, keine Parolen, keine Angriffe auf Sitte und Moral proklamieren, sorgen können. Nicht nur die Studierenden des AStA wurden angegriffen, angefeindet und an Leib und Leben bedroht. Ironischerweise hat der vermeintliche Einsatz für mehr Frauenrechte einige Menschen zum Ausdruck perfider Misogynie angeregt; auf einmal klopfen mir, der Feministin Gomringer, AfD-Fraktionsmitglieder auf die Schulter, augenzwinkernd quasi, ein „diesen Feministinnen muss man doch einen Strich durch die Rechnung machen“ mitgebend. Wir Gomringers sind müde, der Dichter von amüsiert und konfrontationswillig zu enttäuscht gewandelt. Ein halbes Jahr Gespräche über „die Flammenschrift an der Wand“, die weit von göttlichem Wort als Wort des Dichters aber schmähend behandelt wurde. Mein Vorschlag für die Wand samt dem festzuhaltenden Gedicht sieht so aus: Es ist ihm die Zeile „Hier stand einst:“ voranzustellen. Gerne in blinkender Neonschrift wie so schön von Grafikdesignerin Zara Teller. Das würde ein wenig an den „Skandal“ erinnern, denjenigen AStA-Mitgliedern, die Humor besitzen, Recht zusprechen, und alle wären mit einem schönen Rätsel konfrontiert. Da ich befürchten muss, dass mein Vorschlag auf viele Fragezeichen trifft, habe ich eine „Guerilla-Aktion“ gestartet und begonnen, den Text auf alle meine Reisen mitzunehmen. Ich klebe ihn als Aufkleber überall hin. Wird ihm „seine“ Mauer entzogen, sollen viele andere herhalten. Unter #AVENIDASWALL wächst auch durch die Mithilfe von Freunden und Gleichgesinnten die Aktion samt Galerie an und das Gedicht und seine Schönheit leben weiter, unter anderem nun auch als Thema der Dissertation einer amerikanischen Studierenden.
Selbst im Staatsdienst arbeitend, habe ich natürlich dafür gesorgt, dass der Aufkleber rückstandslos zu entfernen ist. Kein Gebäude soll an einem Gedicht „leiden müssen“. Dieser Gedanke führt übrigens zum Anfang zurück. Hätte man mit freundlichem Brief an Jury und Dichter dem Wunsch um Neugestaltung der Wand Ausdruck verliehen mit einem konkreten Vorschlag zum Ersatz, es wäre uns allen eine große Anstrengung erspart geblieben. Das Schweigen der Juristen in dieser Sache der Kunst im öffentlichen Raum gepaart mit Zensur ist übrigens bezeichnend. Die machen es schlau… Denn ihre Zeit kommt nun, da der Text fort soll und die Frage der Kompensation aufkommt. Und warum auch nicht? Im Gegensatz zu den Dichtern leben die Juristen ja von ihrer Arbeit.

Nora Gomringer, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays, Nimbus, 2018

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