Eva Hesse und Heinz Ickstadt (Hrsg.): Amerikanische Dichtung

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Eva Hesse und Heinz Ickstadt (Hrsg.): Amerikanische Dichtung

Hesse und Ickstadt (Hrsg.)-Amerikanische Dichtung

KOHLE

aaaaaIch
ist das gänzlich Schwarz, gesprochen
aus dem Inneren der Erde.
Es gibt vielartiges Offen
wie ein Demant zu einem Flammenknoten wird
wie Klang in ein Wort kommt, gefärbt
davon, wer was fürs Sprechen zahlt. 

Manche Wörter sind offen wie ein Demant
auf Glasfenstern
aufjauchzend im jähen Aufprall der Sonne
Dann gibt’s Wörter wie Wettscheine
in einem Abreißblock – kaufen signieren abtrennen –
egal was das Los bringt, der Steg bleibt
gleich dem Stumpf eines schlecht gezogenen Zahns mit gezackter Kante.
Manche Wörter leben in meinem Rachen
brüten wie Nattern. Andere kennen die Sonne
tasten wie Zigeuner über meine Zunge
um durch meine Lippen zu platzen
wie junge Spatzen aus der Schale bersten.
Manche Wörter
behexen mich.

Liebe ist ein Wort, ein anderes Offen.
Wie der Demant zu einem Flammenknoten wird
ich bin schwarz weil ich aus dem Inneren der Erde komme
jetzt nimm mein Wort als Juwel im offenen Licht. 

Audre Lorde
Übersetzung Cora Josting

 

 

 

Nachwort

Geschlagene zwei Jahrzehnte lang wurde in den U.S.A. mit großer Leidenschaft über Wert oder Unwert der literarischen Tradition und über die Zugehörigkeiten zum Kanon debattiert. Kritisiert wurde dabei vor allem die bis dahin geltende Praxis, wonach Dichter, um in die feine Gesellschaft einer Anthologie aufgenommen zu werden, drei Voraussetzungen mitbringen mußten, nämlich: weiß, männlich und (vorzugsweise) schon tot zu sein. Heutzutage erscheint es kaum noch vertretbar, dem Kanon der amerikanischen Literatur einzig die hochkulturelle Dichtung genialer Männer angelsächsischer Herkunft zuzurechnen und damit die gesellschaftlich schon überholten Hierarchisierungen nach „gender“, „race“ und „dass“ noch einmal aufzurichten. Aus unserer derzeitigen Sicht hat die Lyrik von „Frauen und anderen Minderheiten“ (wie die charakteristische Formel bis in die 50er Jahre hieß) entschiedenen Anteil an der „idealen Ordnung“ der amerikanischen Dichtung – wenn auch nicht unbedingt in dem von Eliot gemeinten Sinn.
Das wirft ganz neue Fragen auf: Wie breit ist das ethnische Spektrum einer Literatur, die sich nicht länger allein auf anglo-amerikanische Kulturträger beschränkt, und wo fängt diese Lyrik an? So macht es etwa die reiche mündliche Tradition der indianischen Ureinwohner zumindest problematisch, die amerikanische Lyrik wie bisher üblich mit der puritanischen Periode beginnen zu lassen. Andererseits lagen die Sprach- und Vorstellungswelten von indianischen Ureinwohnern und puritanischen Siedlern so weit auseinander, daß es wenig einleuchtend erscheint, hier von einer gemeinsamen ,amerikanischen‘ Tradition zu sprechen. Für die Siedler hatte – in der Kolonialzeit bis in die frühe Republik – die englische Dichtung Vorbildcharakter, und lange Zeit schien es, als wäre hier eine koloniale Filiale der britischen Literatur im Entstehen, die sich mit der kreativen Aneignung der englischen Dichtertradition bescheiden würde. Zunächst jedenfalls versuchten die Dichter und Dichterinnen der amerikanischen Provinz im kulturellen Imperium der britischen Krone ihren Platz und ihre Stimme zu finden, angefangen von den dichterischen Versuchen Anne Bradstreets, über die frommen Meditationen des puritanischen Geistlichen Edward Taylor, der mit seinen Gedichten bei den englischen Metaphysical Poets anknüpfte, über die von Edward Young und Alexander Pope beeinflußten Dichter der Kolonialzeit und frühen Republik, bis zu den William Wordsworth nachempfundenen Gedichten von William Cullen Bryant. Unter diesen ersten Vertretern amerikanischer Lyrik befand sich mit Phillis Wheatley (1753?–1784) bereits eine weibliche afroamerikanische Stimme, die freilich bald in Vergessenheit geriet und erst in unserem Jahrhundert wiederentdeckt wurde.
Doch schon in dieser frühen amerikanischen Dichtung zeichnen sich Ansätze zu eigenständigen und widerständigen Entwicklungen ab. Nicht nur, daß den formalen Vorbildern der klassischen Tradition andere, amerikanische Inhalte unterlegt wurden: um ihre Geltung zu behalten und lebendig weiterwirken zu können, wurden die Vorbilder von Fall zu Fall umgemodelt. Dazu kam der widerborstige Individualismus von Siedlern, die in religiösen Dingen keine Ämterinstanz zwischen sich und Gott dulden wollten, während sie sich im täglichen Umfeld mit der Uranfänglichkeit einer wilden, quasi ,paradiesischen‘ Landschaft konfrontiert sahen. Der amerikanische Dichter/die amerikanische Dichterin versteht das schöpferische Tun somit in den Kategorien des Neuanfangs: Er/sie ist vor Gott und Natur auf sich allein gestellt, allein auch vor die Aufgabe, in der Dichtung eine eigene Stimme und Vision zu finden. Von ihrer puritanischen Frühzeit bis zur heutigen Postmoderne durchzieht die amerikanische Dichtung folglich eine nonkonformistische Tendenz, die sichtbar wird einerseits in den periodisch wiederkehrenden Ausbrüchen aus formalen und thematischen Einengungen und andererseits in dem demokratischen Hang zu einer Poetisierung des Alltags, der als Vorgriff auf das kulturrevolutionäre Programm der ,Überführung von Kunst in Lebenspraxis‘ in der Frühmoderne gesehen werden kann. Bemerkbar macht sich dieser Zug schon in den eigenwilligen, dem Gewöhnlich-Alltäglichen verpflichteten Kodierungen der Sprache von Edward Taylor und Anne Bradstreet (bei der das symbolische Lorbeerblatt wieder zum Küchengewürz wird), von Philip Freneau, Joel Barlow oder William Cullen Bryant. Ein subversiver Stachel spricht auch unüberhörbar aus so paradoxen Formulierungen der Emily Dickinson wie: „Mancher Wahnsinn ist göttlichster Sinn – / Für den geschärften Blick –“ oder aus der ketzerischen Anrufung ihres Herrgotts als „Strauchdieb! Banker – Vater.“ Wenn Dickinson ihre sprachliche Grundausstattung auch im wesentlichen aus Bibel und Kirchenlied bezieht, so liest sie die frommen Schriften doch am liebsten gegen den Strich.
Es war Ralph Waldo Emerson, die Schlüsselfigur der amerikanischen Romantik, der in den 1830er Jahren die Fortschreibung der Unabhängigkeitserklärung von 1776 im kulturellen Bereich forderte. Und genau wie sich der Aufstand der Kolonisten gegen die britische Monarchie und gegen das geschriebene Recht des Staates auf das ungeschriebene Recht der Natur berufen hatte, so berief sich nun Emerson gegen die schriftliche Überlieferung der englischen Literatur auf in der Natur selbst vorgegebene „organische“ Formen. Kühn visiert er eine Dichtung „nach der Architektur des Sturms“ an (s.a. S. 42) und verzichtet auf jede Ermächtigung durch literarische Vorläufer oder Vorbilder (sogar auf die bis dahin so unerläßliche Autorität der Heiligen Schrift), um seine Offenbarungen unmittelbar aus dem Buch der Natur zu lesen, das als das offene Buch des universalen Geistes („the Over-Soul“) an die Stelle der Bibel getreten ist. Emersons Verbindung von romantischer Naturschwärmerei, Poetologie und Nationalismus gilt zwar auch für die europäische Literatur der Zeit, doch das Andersartige daran ist, daß der Ruf nach kultureller Eigenständigkeit hier im Namen des Neuen, des Noch-Nie-Dagewesenen, des „Modernen“ ertönt. In seinen grundlegenden Essays „Nature“ (1836), „The American Scholar“ (1837) und „The Poet“ (1842) erhebt Emerson die Forderung, der Mensch müsse voraussetzungslos seinem ursprünglichen Selbst vertrauen, jenem Selbst, „dem Sonne und Mond entsprungen sind“. Auf diese Weise versucht er, mit der über Bücher vermittelten Tradition der Väter und mit der ganzen Last der Vergangenheit zu brechen („Warum sollten wir in den verdorrten Gebeinen der Vergangenheit wühlen?“) und die schöpferische Selbstentfaltung an die immer neue Erfahrung des Hier-und-Jetzt zu binden („Wir leben immer in einem neuen Tag.“).
Selbst jene, die, wie Melville und Hawthorne, der philosophischen Ganzheitsvision Emersons skeptisch gegenüberstanden, teilten seine Überzeugung von der Notwendigkeit eines eigenwüchsigen amerikanischen Neubeginns in der Literatur. Als das eigentliche Manifest dieses Aufbruchs kann Emersons zukunftsträchtiger Essay „The Poet“ verstanden werden, in dem die Gestalt eines nationalen Dichters entworfen wird, der als „representative man“ aus dem Bewußtsein der kosmischen Einheit alles Seins lebt und seinem Selbst die ganze Menschheitsgeschichte einverleibt:

Der Dichter ist Stellvertreter. Er steht unter den Teilmenschen für den Gesamtmenschen und bekundet nicht sein Wesen, sondern das Gemeinwesen.

Ihm ist die Macht zu eigen, „das Ganze in allem und jedem zu sehen“, und eben darin liegt auch seine demokratische Sendung. Anders als seine Dichterkollegen in Europa sieht Emerson im „represeritative man“ somit nicht den abgehobenen „Geistesfürsten“, sondern „the common man“, den einfachen Mann aus dem Volk. Auch aus diesem Grunde erhöht er das werktägliche Leben und die Bilder des Alltags zum legitimen Gegenstand der Dichtung. Vor allem aber erklärt er die einfache und natürliche Umgangssprache – „the common speech“ – zum legitimen sprachlichen Träger der Lyrik. Die Antinomie von Kunst und Leben wird damit hinfällig. „Schneide diese Sätze und sie werden bluten“, schrieb Emerson und ganz ähnlich Whitman:

Camerado, dies ist kein Buch; – Wer dies berührt, berührt einen Mann.

Dies Programm einer existentiell vom Leben gedeckten literarischen Aussage enthält Impulse, die bis zum heutigen Tag in der amerikanischen Lyrik mächtig geblieben sind.
Walt Whitman hatte Emersons Entwurf des Dichters als „representative man“ gelesen, als ob er auf ihn selber zugeschnitten wäre. „Ich brodelte und brodelte“, berichtet er später, „erst Emerson brachte mich zum Kochen,“ und er übernahm die Rolle des Dichter-Propheten im Vorwort zu seinen Leaves of Grass (1855) mit beinahe lässig-selbstverständlichem Gestus. Aber auch Emerson selber sah seine Prophezeiung eines nationalen Dichters für die jungen Vereinigten Staaten durch Whitman eingelöst. Entsprechend beginnt die amerikanische Lyrik – als Lyrik der Innovation und Modernität – in vielen Darstellungen der amerikanischen Literaturgeschichte erst mit Whitman.
Whitman bricht aus den Bibliotheken der Alten Welt aus. Er verwirft die ,widernatürlichen‘ Hierarchien des europäisch-feudalen Systems und versteht die Demokratie als kosmisches Prinzip und somit als die naturgegebene Organisationsform der Ding- und Menschenwelt. Weil sich für ihn der Genius Amerikas in den einfachen Leuten zeigt, thematisiert er das Gewöhnliche in seiner Dichtung – etwa in den bekannten „Katalogen“ seiner Verse, die als „Ranglisten“ jeder Hierarchisierung Hohn sprechen. Seine Ästhetik beruht auf „bodily knowledge“ (körperlicher Erkenntnis), d.h. auf der sinnlichen Freude am stofflichen Austausch im Aus- und Einatmen der Welt, mit dem die kulturellen Zäsuren zwischen Geist und Materie, Ich und Nicht-Ich, Kunst und Nicht-Kunst, wesenlos erscheinen und die Einheit von Seele und Körper zumindest metaphorisch vollzogen wird. Dabei leuchtet er verschiedene Wege zu einer neuen Art der Umsetzung des Körperlichen in die Sprache aus, die erst in der Moderne literarisch zum Tragen kommen. Whitmans freie Verse orientieren sich an den Rhythmen des Körpers (etwa des Pulsschlags oder der individuellen Stimmlage) und ersetzen die metrisch-gebundene, tradierte Verszeile durch die ,natürliche‘ Phrasierung der ureigenen Atemlänge. Bewußt forciert Whitman die Erosbindung, nicht die Logosbindung unter den Wörtern; so schreibt er etwa in seinen „Notebooks“:

Der vollkommene Autor würde die Worte dazu bringen, zu singen, zu tanzen, zu küssen, dazu, den männlichen und weiblichen Geschlechtsakt zu vollziehen, Kinder zu kriegen, zu weinen, zu bluten, zu rasen,… kurzum all das zu tun, wozu Mann und Frau und die Kräfte der Natur imstande sind.

Die weltschöpferische Rhetorik Whitmans bedeutet auf der einen Seite eine grandiose Übersteigerung, auf der anderen aber auch eine Zurücknahme des Ich, denn nur wenn der Dichter sein Sensorium gegenüber dem „Anderen“ offen hält, sprechen die Dinge zu ihm, so daß nicht allein die eigene Stimme aus dem Gedicht ertönt, sondern auch die Stimme der Schöpfung selbst. Die Selbstthematisierung in diesem paradoxen Sinn ist für Whitmans Schaffen zentral. Durch die wechselseitigen Projektionen zwischen Mensch- und Dingwelt, die der Stoffwechsel bedingt, wird der abstrakte Zeichencharakter der Kommunikation unterlaufen, die Distanz zwischen Symbol und Symbolisiertem tendenziell getilgt. Die Dinge beginnen auch unabhängig vom sinnsetzenden Subjekt zu sprechen. Etwas Verwandtes klingt in Pounds Absage an die symbolische Überhöhung an: „Der natürliche Gegenstand ist stets das angemessene Sinnbild“ oder in Williams’ poetologischer Grundregel: „Keine Ideen außer in Dingen“ oder in Stevens’ Variation des gleichen Themas:

Nicht Ideen über das Ding, sondern das Ding selbst.

Das schöpferische Selbst der Whitmanschen Dichtung bleibt „offen“: Es ist ein Ich, das immer wieder in andere Ichs hinüberspielt und seine Identität, fortgesetzt am Nicht-Ich der Außenwelt erkundet. Die Selbstwerdung, die gleichlaufend mit der Genese des Gedichts erfolgt, hat zur Voraussetzung, daß der Dichter auch in bezug auf seine endgültige Aussage offenbleibt. Es handelt sich um eine Dichtung, die vom Leben selbst getragen wird und die daher auch nicht durch ein ästhetisches Finale oder eine endgültige Sinnstiftung, sondern allein durch das biologische Ableben des Autors beendet wird. Die Offenheit einer solchen lebensbegleitenden Erfahrungsdichtung führt zur Entstehung des für die amerikanische Lyrik der Moderne charakteristischen Langgedichts: Pounds Cantos, Williams’ Paterson, Olsons The Maximus Poems, um nur einige Beispiele zu nennen.
Doch so nachdrücklich sich die internationale Avantgarde zu Anfang des 20. Jahrhunderts für ihren Bruch mit dem literarischen Kanon der Alten Welt auf Whitman berief, so entschieden rückte die Hochmoderne bzw. die „klassische Moderne“ wieder von ihm ab. Whitmans Zurückweisung aller Konventionen und sein Bekenntnis zum rückhaltlosen Ausdruck des dichterischen Selbst wurden ihm als Ermutigung zu formaler Zügellosigkeit angelastet; seine Lossage von aller Tradition wurde jetzt als Verlust und Mangel empfunden. Dennoch machte gerade die von Whitman begründete amerikanische Tradition der Nicht-Tradition durch ihre Flexibilität Einschreibungen möglich, die sich ebenso als genuin amerikanisch im herkömmlichen Sinn (Carl Sandburg, Hart Crane, Robinson Jeffers) wie auch als ethnisch verstehen können: letzteres etwa in der Lyrik von Langston Hughes, die Whitmans Sprachgebärde mit dem mündlichen und musikalischen Erbe der Afroamerikaner verbindet. So ist die Nachwirkung Whitmans auch da noch spürbar, wo es um deutlich andere Ausdrucksformen geht.
Ähnlich wie Whitman hatte Emily Dickinson auf ihre Weise mitten im 19. bereits das 20. Jahrhundert vorweggenommen. Dabei war sie in allem das genaue Gegenteil von Whitman: Wo er breite Öffentlichkeit für sich beansprucht, ist sie privat, enigmatisch, grüblerisch. Wo er ausladend Welt aus sich herausprojiziert, zieht sie sich mimosenhaft in den Innenraum der Seele zurück. Wo er alle vorgegebenen metrischen Formen hymnisch in den Wind schlägt, beschränkt sie ihre Meditationslyrik auf die karge und äußerst begrenzte Strophenform des neuenglischen Kirchenlieds. So erscheint ihre Metrik schlicht, verbindet sich aber dank ihres hervorragenden Gehörs für den idiomatischen Tonfall zu besonderen rhythmischen Reizen. Wo er alle Schleusen des Wortschwalls öffnet, liebt sie die harte Fügung und den knappen sperrigen Ausdruck, ja die komplexe Gedanklichkeit ihrer Sprache ist bewußt „unweiblich“. Ihre eigenartige Schreibweise, Interpunktion und die auffälligen Gedankenstriche entstammen den geläufigen sprecherzieherischen Textbüchern ihrer Schulzeit. Doch bilden die Gedankenstriche bei ihr zudem „Risse, die an der Textoberfläche die semantische Vulkantätigkeit im Inneren anzeigen“ (v. Koppenfels).
Mit ihrem Rückzug von der Welt ins Haus des Vaters und dem weitgehenden Verzicht darauf, ihre Stimme über einen engen Freundeskreis hinaus zu Gehör zu bringen, verweigert sich die Dichterin, den Zwängen des Marktes und des Zeitgeschmacks („Publication – is the Auction / Of the Mind of Man –“), fügt sich aber zugleich dem patriarchalen Gebot der Entrealisierung der Frau, das das spätviktorianische Bürgertum auch in den U.S.A. kennzeichnet. Die Frau hatte ichlos und anonym zu sein, ohne eigene Persönlichkeit, um der männlichen Selbstverwirklichung nicht im Wege zu stehen.
Sie sollte Objekt bleiben – „ein unbeschriebenes Blatt“ –, durfte nicht Subjekt werden. So übt Dickinson sich gelegentlich in den Demutsgesten viktorianischer Weiblichkeit:

Ich bin Niemand! Und Du?

Doch während sie sich nach außen hin artig im Vaterhaus einschließt, ganz die altjüngferlich neuengländische Lady, erträumt sie in ihrer Dichtung wilde Ausbrüche, bei denen die ganze männliche Ordnung in die Luft gejagt wird:

The soul has moments of Escape –
When bursting all the doors –
She dances like a Bomb, abroad.

Trotz dieser elektrisch geladenen Verbindung von konventioneller Form und konventionssprengender Aussage, die sich auch bei Autoren wie E.A. Robinson, Edgar L. Masters und Robert Frost wiederfindet, blieb Dickinsons Werk infolge der verspäteten und zum Teil verstümmelten Publikation ihrer Texte allzulange aus dem literarischen Spektrum der Avantgarde und selbst noch der Hochmoderne ausgeblendet. Sie galt bestenfalls als provinzielle, wiewohl höchst originelle Randfigur, die der viel geschmähte puritanische Geist Neuenglands nicht zur Entfaltung hatte kommen lassen. „Wir wußten noch nicht einmal, daß sie da war. Armes, kleines Ding“, sagte Robert Frost 1960 in einem Interview. Doch wenn die amerikanische Dichtung in wesentlichen Zügen ein Gegenentwurf zur Dichtung der Alten Welt ist, dann geht Dickinson darin noch einen Schritt weiter als ihre männlichen Kollegen, denn sie liefert die Materialien zur nachfolgenden Revision der Werte patriarchaler Kultur überhaupt. Im Rückblick steht die Bedeutung ihres Werkes als Triebfeder und Fundgrube der amerikanischen Lyrik im 20. Jahrhundert außer Frage. Sie selber hatte nur geträumt von einer Welt, „where women live aloud“, doch im 20. Jahrhundert erschloß sie den Frauen einen neuen Kontinent weiblicher Dichtung.
Die Schlüsselrolle Whitmans und Dickinsons für die lyrische Moderne verstellt uns Heutigen den Blick auf das Wirken von Henry Wadsworth Longfellow, in dem seine Zeitgenossen vermutlich viel eher den von Emerson beschworenen nationalen Barden erkannten. Longfellows ungeheure Popularität machte ihn zu seiner Zeit zur Gegenfigur von Whitman. Seine Gedichtbände, die Rekordauflagen erzielten und in alle Weltsprachen übersetzt wurden, sprachen sowohl die Gebildeten wie auch das breite Publikum an. Die radikale Abkehr Whitmans von den Traditionen der Alten Welt mochte Longfellow nicht nachvollziehen. Er übernahm vielmehr die überkommenen Formen der europäischen Versdichtung und füllte sie mit neuen amerikanischen Inhalten, vor allem in seiner romantischen Überarbeitung von Indianermythen und -legenden wie „The Song of Hiawatha“ (im Versmaß des finnischen Nationalepos Kalevala), den Geschichten aus der Kolonialzeit wie „Evangeline“ (in Hexametern nach dem Vorbild von Goethes „Hermann und Dorothea“) und Stoffen aus der National- und Zeitgeschichte wie die volkstümliche Ballade von Paul Revere oder die „Poems on Slavery“ aus dem Jahre 1842. Neben seiner metrischen Virtuosität kam ihm sein großes erzählerisches Talent zugute, das er – bewußt in der Rolle des amerikanischen Nationaldichters – für mythenschaffende Verserzählungen einsetzte, um ein „kulturelles Erbe“ zu erstellen.
Nur innerhalb der konventionellen lyrischen Formen und unter penibler Beachtung von vorgegebenem Metrum und Reim suchte Edgar Allan Poe Originalität und Leser-Anklang. Er unternahm einen poetologischen Generalangriff auf Emerson, dem er anlastete, das Dichten vorwiegend unter dem Aspekt der Sinnsuche und der Aussage zu sehen, während er selber es von jedem philosophischen und ethischen Ballast befreien wollte. Nach Poes Auffassung besteht Dichtung einzig „im rhythmischen Erschaffen von Schönheit“, d.h., sie ist kein kommunikatives, sondern ein rein ästhetisches, durch den Effekt auf den Leser motiviertes Metier. Unbestimmbarkeit, Suggestion, Mystifikation und Mehrdeutigkeit gehören zu seinem poetischen Kalkül. Nach seinem Tode fiel Poes lyrisches Schaffen trotz der volkstümlichen Ballade „The Raven“ – im Billigdruck auf den Straßen von New York und Philadelphia massenhaft verkauft – rasch in Vergessenheit. Sein poetisches Überleben für die Nachwelt verdankt er vor allem Baudelaire, Mallarmé und den französischen Symbolisten, die mit seiner Verabsolutierung des Ästhetischen mehr anzufangen wußten als die Amerikaner – bis Hart Crane und W.C. Williams ihn in den 20er Jahren als Vorläufer und Geistesverwandten aus der Versenkung holten.
Im Rückblick läßt sich sagen, daß Whitmans Einwirkung auf die Entwicklung der amerikanischen Lyrik, obwohl er bis in die späten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine Dichtung der offenen Form schrieb, für lange Zeit eher begrenzt war. Nicht nur, daß die normative Verbindlichkeit traditioneller Versformen für den Mainstream der zeitgenössischen Lyrik nach wie vor bestehen blieb, die Notwendigkeit des individuellen Ausdrucksfindens in den (und gegen die) Fesseln einer vorgegebenen lyrischen Konvention erschloß noch Autoren wie Robinson, Masters oder Frost ein breites Spektrum reizvoller Innovationen, durch die traditionelle Konzepte von Dichtung eher bestätigt als durchbrochen wurden.
Die endgültige Mündigkeit gegenüber den englischen Vorbildern und das Ausbrechen aus der provinziellen Enge scheint daher erst jenen Dichtern zu gelingen, die Amerika noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs verließen, um die Literatur im Kontext der internationalen Avantgarde von Grund auf zu revolutionieren: T.S. Eliot und Ezra Pound. Bereits Eliots Adaption des französischen Spätsymbolismus in The Love Song of J. Alfred Prufrock (1915) signalisiert einen radikalen Bruch mit den Konventionen spätviktorianischer Lyrik. Hier wird, vor allem durch die Anwendung von Laforgues dissonantischer Heiß-und-Kalt-Methode, die abgehobene „poetische“ Tonlage ständig durch triviale Alltäglichkeiten unterminiert, während die bisherige Einheit der Textoberfläche in lauter Zitatfragmente aufbricht. In der Collage der bildenden Kunst werden Wirklichkeitsfragmente, Fundstücke aus dem banalen Alltag als Fremdkörper in das avantgardistische Kunstwerk integriert. Die literarische Entsprechung dazu besteht in der Verwendung von Zitaten, den Worten der anderen im eigenen Text, was u.a. auch das Verlassen einer einheitlichen Stilebene zur Folge hat. Durch die Einbeziehung der vielen Zitate aus anderen Werken ins eigene Werk erklärt sich der modernistische Text, etwa bei Eliot, Pound, Williams und Joyce, zudem zum Bestandteil eines Kontextes, die eigene Sprache zu einem Teil der sprachlichen Umwelt.
Etwa zur gleichen Zeit hatte Pound die drei hauptsächlichen Methoden entdeckt, durch die „Sprache mit Sinn aufgeladen“ werden kann: Melopöie, wodurch die Worte über ihren baren Sinn hinaus mit einer musikalischen Eigenschaft geladen werden; Phanopöie, wodurch Bilder auf die geistige Netzhaut des Lesers projiziert werden; Logopöie, „the dance of the intellect“, wodurch die Sinnschwingungen zwischen den Worten zum Tragen kommen. Um diese drei Verfahren sprachinnovativ einzusetzen, verfolgt Pound sie zurück bis zu ihren Erstvorkommen und Höchstleistungen (etwa bei Bion, Properz, Cavalcanti, Heine, Laforgue, oder in anderen Ländern: der Provence, Japan, China), wobei eine neuerliche Traditionsbildung freilich nicht ausbleibt. Ein Hauptanliegen zu dieser Zeit ist es ihm, die verblasene Versdichtung seiner Vorläufer und Zeitgenossen mit einer nüchternen Präzision der Wortwahl (das mot juste) „auf die Höhe der Prosa“ zu bringen:

Wenn wir keine Dichtung machen können, die es in bezug auf die Natürlichkeit und Direktheit der Sprache mit der Prosa aufnehmen kann, dann wollen wir in Gottes Namen das Maul halten.

„Sprache ist aus konkreten Dingen gemacht“, erklärte er Harriet Monroe, der Herausgeberin der einflußreichen Chicagoer Zeitschrift Poetry 1915.

Allgemeine Äußerungen in nicht-konkreten Worten sind bloße Trägheit.

Über das japanische Haiku hatte er eine imagistische Technik entdeckt, in der sich die Aussage quasi wortlos nur aus der Überschneidung von zwei bildhaften Vorstellungen ergibt. Wie viele andere experimentelle Wegbereiter der Moderne peilt Pound mit seiner Insistenz auf dem Bildhaften und Konkreten im Grunde präverbale Sprachschichten an. So setzt er die „präsentative Methode“ an die Stelle der „re-präsentativen“ und läßt in seinen Versen die erklärenden Mittelglieder entfallen, weil er „allein über die rasche Kontraposition von Objekten“ zu einer authentischen Sprache der Dinge selbst, einer kaum noch symbolischen Kommunikation, kommen will. Etwas später wird ihm das chinesische Schriftzeichen zum Modell einer geradezu kinematischen Bildverknüpfung, die ihm eine „ursprünglichere“ Sprache der Bilder ermöglicht. Dabei wird das anfänglich zweiwertige image transponiert in das Zusammenspiel mehrerer heterogener Bildelemente über einem sinngebenden Bildnenner. Die Worte bilden unter sich ein Spannungsfeld, in dem der Leser viele Sinnschwingungen zugleich wahrnehmen kann. So gelangt Pound zur Polyphonie seiner Canto-Stimmen, die gleichzeitig verschiedene Dinge sagen und verschiedene Bewußtseinsebenen ansprechen. Doch diese sprachliche Simultaneität enthält immer noch die imagistische Grundstruktur der dynamischen Bildfügung als eine „Form der Überlagerung“.
Der Aufstand gegen den englischen Blankvers ist ein weiterer Angelpunkt der modernen amerikanischen Lyrik. „Den Pentameter zu zerschlagen, das war der erste Streich“, erinnert sich Pound in seinen Pisan Cantos. Zur Begründung erklärt er (ähnlich wie später W.C. Williams zu seiner Forderung nach einem „variablen Versfuß“), daß das Zeitmaß im Gegensatz zum bloßen Metrum imstande ist, „viel mehr Umgangssprache aufzunehmen… Rhythmus ist eine in Zeit geschnittene Form, so wie eine Zeichnung abgegrenzter Raum ist“. In der Atemlänge, der „Gedankenform“, dem sinnlich-körperlichen Rhythmus seiner Verse sieht Pound im Endeffekt die Versöhnung aller Dichotomien, durch die er sich zeitlebens bewegt hat. Denn dieser Rhythmus kann nicht gefälscht werden, er ist unwiderlegbar, stammt er doch in letzter Instanz aus dem vorsprachlichen, dem ,imaginären‘ Bereich seiner Leiblichkeit:

Der Rhythmus eines Menschen muß wesentlich sein; er ist daher letztlich ein Eigenrhythmus, nicht nachgeahmt, nicht nachzuahmen.

Eliots jugendliche Auflehnung gegen den Mief der kulturellen Vergangenheit betraf vor allem das romantisch-viktorianische Epigonentum der unmittelbar vorausgegangenen Epoche. Im übrigen bekannte er sich zur Tradition. Das gilt zwar auch für Pound, doch dessen Forscherdrang führte ihn sehr bald zum Ausbruch aus der eurozentrischen Perspektive und zu den neuen Horizonten seiner Cantos, in die sich provenzalische Dichter, jüdische und arabische Denker des Mittelalters, chinesische Philosophen, amerikanische Gründerväter, afrikanische Mythen und zuletzt noch die archaischen Natur-Mythen der tibeto-birmanesischen Naxi nahtlos in eine neuerstellte Tradition integrieren ließen. Denn Pounds besondere Gabe „to make it new“ ermöglichte es ihm immer wieder, noch aus dem Uralten und Altbekannten den Funken des Neuen zu schlagen. Von beiden Dichtern läßt sich sagen, daß sie die Tradition als etwas objektiv Vorgegebenes und Unverrückbares nicht eigentlich entdeckten, sondern erfanden – und zwar unter Anwendung durchaus modernistischer Methoden wie der Zitat-Collage. Aus heutiger Sicht trägt das Verfahren, mit dem sie sich eine Tradition aus Fundstücken – eine „aleatorische Tradition“ – zusammenbauten, erkennbar postmodernistische Züge.
Eliot allerdings behauptete für seine Tradition, die er gegen den subjektiven Persönlichkeitskult der Romantik stellte, eine objektive Gültigkeit. Die „bestehenden Monumente der Literatur“, meinte er, bildeten unter sich „eine ideale Ordnung“, der sich der einzelne Dichter unterwerfen müsse:

Das Vorgehen des Künstlers ist eine fortgesetzte Selbstaufopferung, ein fortgesetztes Auslöschen der Persönlichkeit.

Dichtung sei keine Entladung von subjektiven Emotionen, sondern ein Entkommen aus der Emotion, kein Ausdruck von Persönlichkeit, sondern ein Weg aus der Persönlichkeit. Wichtig für den Dichter sei „der Sinn für die Vergangenheit“, und zwar „nicht nur für die Vergangenheit des Vergangenen, sondern auch für dessen Gegenwart“. Dieser Sinn habe zur Folge, „daß man beim Schreiben nicht nur der eigenen Generation inne ist, sondern vielmehr von dem Gefühl getragen wird, die gesamte europäische Literatur von Homer an und innerhalb derselben die gesamte Literatur der eigenen Muttersprache, besäße eine simultane Existenz und eine simultane Ordnung“. Pound für sein Teil mißfällt die Statik an Eliots „Monumenten“, er will sich die Tradition nicht als eine „Reihe von Grabsteinen“ vorstellen und greift lieber zum Bild des schöpferischen „Wirbels“ (lat.: vortex):

Alle Erfahrung schießt in diesen Vortex ein; all die mit Energie aufgeladene Vergangenheit, die tragfähig und lebenskräftig ist… Der Entwurf der Zukunft steht dem menschlichen Vortex zu Gebote. All die Vergangenheit, die vital genug ist, die imstande ist, in der Zukunft weiterzuleben, ist schwanger im Vortex. Jetzt.

Andere amerikanische Dichter, wie die „zu Hause gebliebenen“ Robert Frost, William Carlos Williams oder Hart Crane, wehrten sich gegen diese Einstellung und betonten die Notwendigkeit einer spezifisch amerikanischen Moderne gegen die „Internationalisten“ Pound und Eliot. Vor allem Eliots The Waste Land (1922) veränderte schlagartig die literarische Landschaft und entzweite die Dichter in Amerika. Williams sieht Eliots Meisterwerk aus der Rückschau seiner autobiographischen Erinnerungen als zentralen Verrat an der gemeinsamen Aufgabe; er meint, Eliots Gedicht habe die Entwicklung einer eigenständigen modernen und demokratischen amerikanischen Dichtersprache um Jahrzehnte zurückgeworfen:

Es lieferte das Gedicht wieder an die Universität aus.

Hart Crane, der im Waste Land den Ausdruck eines abgrundtiefen Kulturpessimismus zu erkennen glaubt, entwirft seinen (sprachlich dennoch deutlich von Eliot beeinflußten) Zyklus The Bridge (1930) als zukunftsbejahendes Gegenprojekt, indem er versucht, die kulturellen Erschütterungen der Modernität im Mythos von Amerika aufzufangen, der im technologischen Wunderwerk der Brooklyn-Brücke Gegenwart und sichtbare Gestalt geworden ist.
In Spring and All (1923) und danach setzt auch in radikal anderer Weise, seine Dichtung kontrapunktisch gegen Eliot. Er legt es nicht wie Crane darauf an, das Disparate in einer großen Vision zu neuer Synthese zu bringen, sondern darauf, immer mit dem Blick auf das Sinnlich-Gegebene, eine Poetik des Diesseitigen und des lokal Verwurzelten zu entwickeln. Die Neuheit des Realen ist für Williams immer schon vorgegeben: in dem uranfänglichen Neubeginn des Kontinents oder auch in den spezifischen Bedingungen demokratischer Verfaßtheit; sie muß aber durch eine grundlegende Revitalisierung der Sinne und die ständige Erneuerung der Sprache stets aufs neue augenfällig und faßbar gemacht werden. Thomas Jeffersons Vorstellung von der Notwendigkeit einer permanenten Revolution wird bei Williams, wie auch bei Pound und in der radikal experimentellen Prosa Gertrude Steins, zum ästhetischen Programm. Was auf den ersten Blick an Viktor Šklovskijs Konzept der „Entfamiliarisierung“ erinnern mag, ist wohl doch eher als Rückgriff auf Emersons Forderung nach ständigem Aufbrechen und Loslassen („unsettling“) zu verstehen. Im Epigraph zu seiner Geschichte der gescheiterten europäischen Begegnungen mit dem amerikanischen Kontinent, In the American Grain, schreibt Williams:

In diesen Studien habe ich versucht, die wahrgenommenen Dinge neu zu benennen, die jetzt unter einem Chaos geborgter, vielfach unangemessener Bezeichnungen verloren sind, unter dem das wahre Wesen verborgen liegt.

Mit dem Akt des Neubenennens stellt sich Williams einerseits ausdrücklich in die Nachfolge von Emerson und Whitman, aber auch direkt in bezug zu Gertrude Stein, die sich in einer ihrer Lectures in America ebenfalls auf diese Tradition berufen hatte. Für Stein und Williams ist das Projekt der amerikanischen Moderne auf die Zukunft hin offen: die immer neue schöpferische Freisetzung dessen, wofür „Amerika“ Realität und Metapher zugleich ist – „dieses neue, doch unerreichbare Amerika“, von dem Emerson in seinem Essay „Experience“ gesprochen hatte.
Ein anderer, wenn auch nicht so deutlich erklärter Antipode Eliots ist Wallace Stevens, obwohl auch er wieder – wie Crane – vieles mit Eliot gemein hat: vor allem die Wertschätzung der französischen Symbolisten, die besonders in seinem Frühwerk deutliche Spuren hinterlassen haben. Und, ähnlich wie Eliot, gefiel sich Stevens in der Pose des Kosmopoliten und Dandy, liebte Textur und Flair des exotischen Wortes, assoziiert Dichtung eher mit der Klangfülle der Musik als mit der randscharfen Bildvorstellung. Insofern ist der Titel seines ersten Gedichtbandes, Harmonium, programmatisch zu verstehen. Doch wenn Stevens den seraphischen Ton und den Frisson der Transzendenz kultiviert, ist ihm doch die selbstquälerisch asketische Negativität der frühen Eliotschen Religiosität, einschließlich des Waste Land, fremd. So verwirft etwa das sinnenfreudige „Sunday Morning“ (eins seiner oft anthologisierten Gedichte) „die heilige Stille alter Opferung“ zugunsten der lebendigen Sinnlichkeit des Augenblicks. Diese Betonung des Hier-und-Jetzt verbindet ihn einerseits mit Emerson, andererseits aber auch mit Williams, mit dem er befreundet war. Doch wenn sich die poetologischen Überlegungen beider auch berühren, so unterscheiden sie sich dennoch deutlich in ihrer dichterischen Praxis. Während Williams in einfühlsamer Wahrnehmung das ,Ding‘ in die konkrete Bild- und Dinghaftigkeit des Sprachobjekts übersetzt, bleibt es für Stevens nur abstrakt im Sprach- und Reflexionsprozeß faßbar. Denn die Worte des Dichters „bezeichnen Dinge, die ohne die Worte nicht existieren“ und schaffen eine eigene Welt der Imagination, den „mundo“: eine sprachliche Gegenwirklichkeit, durch die konkrete „Realität“ erst faßbar und erfahrbar wird.
Der in den Augen von Williams’ und Stevens’ „negative“ Einfluß Eliots beruhte beinah noch mehr auf seinen Essays als auf seiner Dichtung, die nach seiner Konversion zur Anglikanischen Kirche zunehmend an Wirksamkeit verlor. Eliot hatte bei Dante und der „metaphysical poetry“ von John Donne und Andrew Marvell jene „Einheit der Sensibilität“ (als sprachliche Einheit von Denken und Fühlen) entdeckt, deren Verlust, wie er meinte, die zunehmende Säkularisierung und geistige Verödung der modernen Welt verursacht hatte. Eliots Forderung nach der Zurücknahme des exzessiv Subjektiven in einem „objektiven Korrelat“ des sprachlichen Ausdrucks ebenso wie seine Vorstellung einer komplexen sprachlichen Austarierung von Geistigkeit und Sinnlichkeit (die kulturell zwar verloren, aber in der Einheit des Gedichts noch evozierbar ist) wurden von den amerikanischen New Critics in der Folge zu einer normativen Ästhetik der klassischen Moderne verfestigt, die jahrzehntelang die amerikanische Dichtung und den akademischen Diskurs darüber prägte. Als legitimer Gegenstand der Analyse von Gedichten verblieb im wesentlichen nur noch ihre sprachliche Struktur, die auf Komplexität, Paradoxie und Subtilität hin untersucht wurde. Kennzeichen für höchstes dichterisches Niveau, ja geradezu Fetischbegriff der New Critics war die „ambiguity“, also die forcierte Vieldeutigkeit von semantisch mehrfach besetzten Begriffen. Unter der neukritischen Ägide etablierte sich ein modernistischer Kanon der amerikanischen Lyrik, der Whitman zwar nicht leugnen, aber auch nicht anerkennen konnte, dafür aber Emily Dickinson als frühe Stimme moderner „metaphysischer“ Komplexität in den Kanon aufnahm – wenn auch mit Abstrichen, etwa im Hinblick auf den weiblich begrenzten Erfahrungshorizont ihrer neuengländischen Altjüngferlichkeit –, während das Gedächtnis an andere, wie Longfellow und Poe, fast gelöscht wurde. Da manche der New Critics (Allen Tate, John Crowe Ransom, Robert Penn Warren) selber Gedichte schrieben, entstand in ihrem Umkreis eine „metaphysische“ Dichtung der Hochmoderne, deren poetische Praxis die Richtung der amerikanischen Lyrik bis in die frühen 6oer Jahre dominierte. Sie verdeckte weitgehend Auffassungen und Verfahren der Dichtung, die ihren Vorgaben nicht entsprachen.
So war den New Critics die Lyrik Stevens’ zu diesseitig, zu manieristisch, zu verspielt und sensualistisch, die Lyrik von Williams sprachlich und gedanklich zu wenig komplex. Hart Crane galt ihnen zwar als sprachlich brillant, doch in seiner irrationalen Leidenschaftlichkeit als allzu undiszipliniert und überzogen. Sein Gedichtzyklus The Bridge, so argumentierte sein Freund Allen Tate, sei das Beispiel für ein grandioses Scheitern. E.E. Cummings war in ihren Augen kaum mehr als eine sprachliche und kalligrammatische Tricksterfigur, die nie über textuelle Taschenspielereien hinauskam. Da kann es nicht überraschen, daß der große Aufbruch der schwarzen Dichtung in der Harlem Renaissance und ihr Versuch, für eine weitgehend mündliche und musikalische Tradition eine schriftliche Form zu finden, durchs modernistische Raster fiel, da sie weder den Kriterien dieser hochkulturell verengten Ästhetik entsprach, noch – bis auf wenige Ausnahmen, wie in Allen Tates gönnerhaft-herablassender Anerkennung von Melvin B. Tolson – ernst oder überhaupt wahrgenommen wurde. Denn die innovative Verbindung afroamerikanischer Ausdrucksformen (espirituals“, „blues“) mit Formen weißer Dichtung, die Langston Hughes zum Teil gelingt, konnte nicht den Prinzipien einer Ästhetik entsprechen, die der Lyrik die halb sakrale Funktion zusprach, als Ort sprachlichen, gedanklichen und emotionalen Ausgleichs eine kulturell verlorene Ganzheit zu beschwören und in der Perfektion des Kunstwerks den letzten noch verbliebenen Raum von Transzendenz zu bewahren.
Es war diese Auffassung der Dichtung, die in den 6oer Jahren aus verschiedenen Blickwinkeln und auf verschiedenen Ebenen radikal hinterfragt wurde. All das, was die neukritischen Dichter und Kritiker der klassischen Moderne aus ihrer Skala des poetisch Wertvollen ausgeschlossen hatten, tauchte in einer neuen lyrischen Vielstimmigkeit und einem breitgefächerten Diskurs wieder aus der Versenkung auf. Die neuen Dichter, die Donald Allen in seiner inzwischen legendären Anthologie The New American Poetry (1960) zu Wort kommen ließ, stellten das Subjektive, Persönliche, sogar das Bekenntnishafte über den von Eliot geforderten (wenn auch von ihm selbst keineswegs immer eingelösten) Ausschluß der Person aus dem Werk. Gegenüber dem gedruckten, betonten die Dichter nun wieder das gesprochene Wort und suchten, wie Allen Ginsberg, zum Teil im offenen Rückgriff auf Whitman, nach einer „natürlichen“ poetischen Ausdrucksform, die sich an der Gestensprache des Körpers orientiert oder die – wie Charles Olson in seinem programmatischen „Projective Verse“ bereits 1950 postuliert hatte – rhythmisch durch die Atemlänge strukturiert ist. Analog dazu entstand die Auffassung, daß Dichtung nicht primär ein schriftliches Dokument sei, sondern „Performance“, ein mündliches und kommunikatives Ereignis.
Allgemein formuliert, richtete sich die poetische Revolution der 6oer Jahre gegen das Konzept des Kunstwerks als zeitlos-sakrales Objekt, wie es in der klassischen Moderne im Schwange war. Die neue Dichtung griff vielmehr auf das Projekt der Annäherung von Kunst und Leben in der Frühmoderne zurück: Sie gab sich wieder einen Anschein von Nicht-Kunst, stellte den Prozeß des Schreibens und des mündlichen Vortragens über das fertige Produkt (d.h. über den Text auf dem Papier), erklärte eine thematische Öffnung für das Abfällige, Banale und Triviale des Lebens und bekannte ihre Affinität zur Populärkultur. Der Tradition der lyrischen Hochkultur, die für diese Neuen vor allem mit dem Namen Eliots verbunden war, begegneten sie mit totalem Desinteresse, während Pound, der nach seiner unglückseligen Allianz mit Mussolini in die Irrenanstalt Verbannte, durch die Wiederaufnahme der Konzepte und Verfahrensweisen der frühen Avantgarde in seinen Pisan Cantos einer neuen rebellischen Dichtergeneration den Weg wies.
Die Verstörtheit der kulturellen Elite über eine Lesung Allen Ginsbergs, des Sprechers der „barbarischen“ Beat Poets, an der New Yorker Columbia University hat Diana Trilling in einem bemerkenswerten Aufsatz in der Partisan Review von 1959 festgehalten. Ähnlich aufschlußreich für den Bruch zwischen Hochmoderne und Postmoderne war 1961 eine gemeinsame Lesung von Robert Lowell – (poeta laureatus und, in den Augen der akademischen Kritik, der legitime Thronfolger T.S. Eliots) und Frank O’Hara, dem lässig-eleganten Heros der NewYorker Kunst- und Lyrikszene. Als O’Hara sein Gedicht „Lana Turner has collapsed“ vortrug, das er, wie er sagte, soeben in der U-Bahn geschrieben hatte, reagierte Lowell sichtlich genervt und zog – entsprechend dem modernistischen Ethos von Berufung, Selbstaufgabe und Meisterwerk – O’Haras Seriosität als Dichter in Zweifel. Der Unterschied zwischen beiden lag jedoch weniger darin, daß der eine die Dichtung ernster genommen hätte als der andere, als in der unterschiedlichen Funktion, die sie ihr zusprachen. „Wenn einem das Dichten so selbstverständlich ist wie das Atmen“, meinte ein Freund O’Haras in einem Nachruf, „dann heißt dies nur, daß sie einem lebenswichtig ist.“ Das gleiche hätte der Kinderarzt W.C. Williams von seiner Lyrik sagen können, die erst zu dieser Zeit, wenige Jahre vor seinem Tod im Jahre 1963, in ihrer ganzen Bedeutung erkannt wurde. Die Entmachtung Eliots und der kritischen Schule, die seiner Ästhetik nahestand, vollzog sich beinahe über Nacht. An Eliots Stelle traten als Vaterfiguren der neuen zeitgenössischen Lyrik: Pound (bis Anfang der 70er Jahre), dann vor allem Williams und Stevens, deren unterschiedliche dichterische Praxis zu deutlich unterschiedlichen Linien der Entwicklung in der Lyrik der nachsechziger Jahre führte.
Ohne die Befreiung von den zunehmend als Fesseln empfundenen Glaubenssätzen der Hochmoderne durch die Dichter der „Black Mountain School“ im Umkreis von Charles Olson und Robert Creeley, durch die „Beat Poets“ um Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti, Gary Snyder und Gregory Corso, durch die „New York Poets“ um O’Hara, Ted Berrigan und John Ashbery sowie durch die „Confessional Poets“ Robert Lowell, John Berryman, Sylvia Plath und Anne Sexten wäre der vielfältige Aufschwung der Lyrik der nachfolgenden Dekaden kaum möglich gewesen. Man denke nur an den Gebrauch, den die Dichterinnen ethnischer Gruppen vom Modus intensiv persönlicher Lyrik machten, oder an den Rückgriff auf die ,Echtheit‘ des gesprochenen Wortes in der jüngeren ethnischen Dichtung, die – etwa im Falle der Nuorican Poets – eine Lyrik der interkulturellen Sprachmischung hervorgebracht hat. Thematisch rückt nun eine ganz andere Vergangenheit-die-nicht-vergehen-will als die von der klassischen Moderne anvisierte in den Vordergrund: nämlich der Abgrund zwischen dem amerikanischen Selbstideal, das mit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 errichtet wurde, und der gleichzeitigen Realität der Sklaverei. Dies ist der zentrale Widerspruch, um den in immer erweiterten Erinnerungsringen das literarische Selbstbild Amerikas kreist. Er hatte die afroamerikanische Lyrik allerdings von Anfang an bestimmt. Relevant bleibt ebenso die wiederentdeckte avantgardistische Ästhetik des Unpoetischen, oft verbunden mit der Überzeugung, daß das Dichten – wie Andre Lorde sagte – einem primären organischen Bedürfnis entspricht wie Essen, Sexualität und Schlaf; daß Lyrik daher keineswegs „zeitlos“ ist, sondern ihre Vitalität gerade aus dem lebendigen Jetzt der Erfahrung bezieht. Schließlich gehört zum lange nachhallenden Echo dieser Neuorientierung an „Ursprüngen“ und „Ursprünglichem“ in den 60er Jahren auch die Betonung der kommunitären Rolle der Dichtung: Sie soll nicht länger vornehmlich Angelegenheit von Universitäten und Professoren sein, sondern aus ihrer uranfänglichen Funktion, dem rituellen und darstellenden Gruppenkontext, verstanden werden. Hierher gehören die Lesungen bei den Massendemonstrationen gegen den Vietnamkrieg ebenso wie die poetry slams unserer Tage, in der die Lyrik einzig an die Spontaneität der Performanz und die Interaktion des Vortragenden mit dem Publikum zurückgebunden erscheint. Durch derlei gegenkulturelle Ausbrüche aus den realen oder auch nur vermeintlichen Zwängen einer repressiven Ästhetik entwickelt und erklärt sich die unübersichtliche Vielstimmigkeit der amerikanischen Gegenwartslyrik, die nun nicht länger durch die Dominanz eines einzigen ästhetischen Diskurses gekennzeichnet ist, sondern durch ein Nebeneinander von rivalisierenden Stilrichtungen und herausragenden Einzelfiguren wie John Ashbery, Adrienne Rich oder Susan Howe.
Ashbery, in den Augen mancher Kritiker der bedeutendste amerikanische Lyriker der Gegenwart, hat eine Bewußtseinslyrik frei fließender Selbstreflexion entwickelt, in der die Prozeßhaftigkeit des assoziativen Denk-Sprechens selber zum Gegenstand wird. Ashbery übernimmt den rhetorischen Gestus der Moderne (Stevens) und bereitet zugleich in einem Akt des poetischen „recycling“, kunstvoll-kunstlos und surrealistisch verfremdet, das abgenutzte Material der Alltags- und Mediensprache wieder auf. Für Adrienne Rich allerdings sind Ashberys poetische und sprachliche Strategien der Beliebigkeit und Unbestimmbarkeit ebensowenig hinnehmbar wie sein opportunistisches Zaunhocken („fence-sitting“, wie er es selbstironisch nennt) zwischen den politischen Positionen. Rich, die zusammen mit dem Idiom der Hochmoderne auch die Fremdbestimmung durch den männlichen Diskurs über die Dichtung abstreifen will, findet über die verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung zu einer sprachbewußten, identitätsstiftenden feministischen Lyrik, die in ihrer sprachlichen und ideologischen Unmittelbarkeit durchaus als Gegenpol zu Ashberys Lyrik verstanden werden kann. Für Susan Howe andererseits ist derlei Direktheit wieder problematisch, denn obwohl sie – wie zuvor Adrienne Rich – durch eine Reinterpretation der Dichtung von Emily Dickinson einiges zur Entstehung einer feministischen Poetologie beigetragen hat, verbindet Howe in mehreren Gedichtszyklen weibliches Bewußtsein mit einer Rekonstruktion der historischen Marginalisierung der Frau. Sprache ist für sie immer auch der Ort verdrängter, historisch ausgegrenzter und literarischer Erinnerung. Ihre Gedichte konstruieren Geschichte als intertextuelle Collage, d.h. als einen Akt textwissenden und zugleich textverliebten Erinnerns, wobei sie im Spiel mit den visuellen Möglichkeiten des Textbildes zugleich den sprachlichen Konstruktcharakter jeglicher Geschichtsschreibung vorführt.
Wenn die Geschichte der amerikanischen Lyrik im 20. Jahrhundert in einer Folge von Schüben als Setzung der innovativen These, ihrer Verdrängung und der nachfolgenden Wiederkehr des Verdrängten verstanden werden kann, dann liegt es in der Natur dieser dialektischen Verkettung, daß auch die neuerliche Betonung des Subjektiven, Performativen, „Natürlichen“ und Kommunitären in den 60er und 70er Jahren eine erneute Gegenreaktion auslösen mußte. Die lange Auseinandersetzung zwischen der „poetry of experience“ (Whitman) und der „poetry of learning“ (Longfellow) ist noch keineswegs am Ende. Tatsächlich wird die Möglichkeit einer Rückkehr zu den „Ursprüngen“, insonderheit die Rückkehr zum Ursprung einer „natürlichen“ Sprache, neuerdings mit Nachdruck verneint. Dies gilt für die als sentimental zurückgewiesene Emotionalität der „Bekenntnislyrik“ ebenso wie für die Lyrik ethnischer oder gruppenspezifischer Identitätsfindung. Die postmoderne Neo-Avantgarde der „Language Poets“, zu deren bekanntesten Verfechtern Charles Bernstein gehört (und die bei uns – wenn auch nicht ganz korrekt – durch Susan Howe vertreten ist), betont die zwangsläufige Selbstreflexivität der Sprache, weil Sprache sowohl der Wahrnehmung wie dem wahrnehmenden Subjekt bereits vorgegeben ist und darum beide vor- und verformt. Die soziale und sozialkritische Funktion von Dichtung bestehe eben darin, durch parodistische Collagierung oder sinnauflösende Sprach- und Kompositionsverfahren (Sprachspiele, aleatorische Kompositionen) diese Vor- und Verformungen bewußt zu machen.
Entsprechend sehen manche Kritiker (so etwa Marjorie Perloff in The Dance of the Intellect) die zeitgenössische lyrische Szene nach zwei Gruppierungen aufgeteilt: nämlich in Dichter, die zur Collage und zur Prosa des gesprochenen Wortes drängen – von ihnen führt die Entwicklungslinie rückwärts von Olson, Creeley und Ginsberg über Williams und Pound zu Whitman –, und solchen, die den Kunstcharakter des Gedichts gleichsam zur Schau stellen und sprachliche Selbstreflexion und Selbstreflexivität als notwendig und unvermeidbar betrachten. Deren Entwicklungslinie läßt sich von den „Language Poets“ über John Ashbery zurück zu Wallace Stevens und Gertrude Stein verfolgen. Der Wert von derlei Polarisierungen bleibt jedoch – abgesehen von ihrer Funktion als Orientierungshilfe – fraglich, denn der Reichtum und die Richtungsvielfalt der amerikanischen Lyrik verdankt sich durchaus auch Positionen, die zwischen diesen Schemata liegen: dem Wissen, daß, obwohl Sprache jeder Erfahrung vorgängig ist, Erfahrung weiterhin nach Ausdruck drängt; oder daß, völlig unabhängig von jeder ästhetischen Doktrin, auch die Erkundung der formalen Spielarten der traditionellen Lyrik überaus fruchtbar sein kann.
Die Herausgeber dieser Anthologie haben versucht, den unterschiedlichen, oft gegenstrebigen Tendenzen innerhalb der amerikanischen Dichtung – und das heißt nicht nur der zeitgenössischen – Rechnung zu tragen. Daß ihnen der vorgegebene Umfang Begrenzungen und Verkürzungen auferlegt hat, ist ihnen selber schmerzhaft bewußt. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die großen Langgedichte der Moderne und Postmoderne (Eliots The Waste Land, Cranes The Bridge, Pounds Cantos, Williams’ Paterson, Olsons Maximus Poems), die aus räumlichen Gründen entweder gar nicht oder nur bruchstückhaft berücksichtigt werden konnten. (The Waste Land darf freilich ohnehin nur ungekürzt anthologisiert werden.) Dazu kommt im Falle Eliots die Zweiteilung in eine frühe „amerikanische“ und in eine spätere naturalisierte „englische“ Phase, die dem 3. Band dieser insgesamt vierhändigen Anthologie englischer und amerikanischer Lyrik zugeteilt wurde. Entfallen mußten zu unserem Bedauern auch die anonymen Liedertexte, die zum Grundstock der amerikanischen Lyrik gehören: Balladen, Volkslieder, Spirituals, Gospel Songs, Work Songs, Evergreens und Blues.
Ansonsten sind wir uns im klaren darüber, daß die Gedichtauswahl jeder Anthologie zwangsläufig Widerspruch hervorruft. Einige werden die Gedichte der dominanten Dichter/Kritiker der spätvierziger und fünfziger Jahre: Allen Tate, John Crowe Ransom, Robert Penn Warren vermissen. Dafür haben wir Autoren aufgenommen, die in früheren Anthologien zu wenig Beachtung gefunden haben oder überhaupt noch nicht bekannt waren – etwa Robinson Jeffers oder James Laughlin. Andere werden, wie wir selber, bedauern, daß die Dichtung der ethnischen Minderheiten hier so gut wie ausschließlich nur durch die Lyrik der Afroamerikaner vertreten ist. Aber da jede Anthologie um so mehr Gefahr läuft, sich in diffuser Unübersichtlichkeit zu verlieren, je näher sie der Gegenwart kommt, haben wir uns dafür entschieden, die Lyrik der Afroamerikaner besonders zu gewichten, weil sie in ihrer Mischung mündlich-musikalischer und schriftlicher Konventionen innerhalb der amerikanischen Dichtungstradition repräsentativ ist und als mächtige Sub- oder Gegentradition fungiert. Ähnliches läßt sich für die Lyrik von Frauen geltend machen, die in der Nachfolge Emily Dickinsons den männlichen Lyrikdiskurs der Moderne offen oder heimlich-ironisch unterläuft, ihn in jedem Fall kontrapunktisch begleitet (wir denken hier vor allem an Gertrude Stein, Mina Loy, H. D. und Marianne Moore), bis sie sich schließlich in der Gegenwartslyrik, am nachdrücklichsten im Werk von Adrienne Rich, als eigene Tradition zu erkennen gibt. Dabei kann sich natürlich die weibliche Stimme (wie bei Audre Lorde) auch als ethnische oder (wie bei Susan Howe) auch als avantgardistische positionieren.
Die Reihenfolge der Dichter/innen folgt weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, der Chronologie, denn in einigen Fällen schien es sinnvoll, die zeitliche Reihenfolge aus Gründen der spezifischen Gewichtung zu durchbrechen: So haben wir Gwendolyn Brooks, eine der bedeutenden Repräsentantinnen der afroamerikanischen Lyrik, obwohl 1917 geboren, in den Umkreis der 60er und 70er Jahre gestellt, weil ihre Dichtung im Kontext der „Black Aesthetics“-Bewegung neue Resonanz und Relevanz gewann. Das gleiche gilt für Robert Hayden, der zwar auch, rein chronologisch betrachtet, in die Periode der Hochmoderne fällt, dessen Werk aber erst in den letzten Jahrzehnten von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.
Obwohl unsere Anthologie mit den überkommenen Kriterien von ,Meisterwerk‘ und ,ästhetischem Wert‘ durchaus nicht bricht, ist es offensichtlich, daß diese Maßstäbe nicht die einzigen waren, die unserer Auswahl zugrunde lagen, und zwar einmal, weil die Kategorie des ,Meisterhaften‘ eine bestimmte Ästhetik (nämlich die der klassischen Moderne) von vornherein privilegiert; zum anderen, weil die amerikanische Lyrik – vor allem die des gerade vergangenen 20. Jahrhunderts – aus dem Konflikt sehr unterschiedlicher ästhetischer Theorien hervorgegangen ist. Unsere Anthologie versucht, diese Gegensätze eher zu betonen als zu verwischen, damit der Formen- und Stimmenreichtum der amerikanischen Dichtung deutlich zutage tritt. Nach alldem dürfte es auf der Hand liegen, daß diese Anthologie dem Anspruch der „zeitlosen Gültigkeit“ weder entsprechen kann noch will. Wenn jede Generation, wie Hans Robert Jauß in seinen rezeptionsgeschichtlichen Studien argumentierte, ihre je eigene Literaturgeschichte schreiben muß, dann gilt dies, wie wir meinen, in gleichem Maße für die Erstellung von Anthologien. Die amerikanische Lyrik trat spät – ab Mitte der 50er Jahre – und dann nur in vereinzelten Segmenten ins Blickfeld der deutschen Literatur. Doch erst unter der Weitwinkelperspektive der gesamten Entwicklung zeichnet sich ab, daß wir es hier vielleicht mit einer der großen Epochen der Dichtung überhaupt zu tun haben, auf jeden Fall aber mit einer Fülle und einem Kaliber der Begabungen, die in der Vergangenheit allenfalls vergleichbar wäre mit dem elisabethanischen Zeitalter und in der Gegenwart mit dem Innovationsschub der russischen Avantgarde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Wir hoffen jedenfalls, daß unsere Auswahl und Übersetzung etwas von jener sprachschöpferischen Kraft und formalen Vielgestaltigkeit vermitteln kann, die von ihren Anfängen an die besondere Lebendigkeit der amerikanischen Lyrik ausgemacht hat. 

Eva Hesse und Heinz Ickstadt, Nachwort 

Einführende Bemerkungen

Die Anordnung der Autoren in dieser Anthologie folgt in der Regel der Chronologie ihrer Veröffentlichungen, gelegentlich aber dem Prinzip der thematischen Gruppierung. Die Quellen, Textgrundlagen und Kürzungen werden im Kommentar nachgewiesen. Die für diesen Band relevante Literatur ist im nachfolgenden Verzeichnis aufgeführt. Kurztitel im Kommentar beziehen sich auf dieses Verzeichnis oder auf die Literaturhinweise zu den einzelnen Dichtern. Großbuchstaben in den Gedichtüberschriften bezeichnen Zyklentitel u.ä.; Zwischentitel innerhalb längerer Werke werden im Textteil durch Kursivdruck angezeigt.
Der Kommentar enthält einen biographischen Abriß zu jedem einzelnen Autor mit Angaben zu Werk und Wirkung, dazu selektive Hinweise auf wichtige Erstveröffentlichungen, Standardeditionen, kritische Einzelausgaben, Übersetzungen und wichtige Sekundärliteratur.
Die Erläuterungen zu den Gedichten umfassen einen Quellenhinweis für Texte und Übersetzungen sowie Wort- und Sacherklärungen. Die Zahl vor dem Gedichttitel oder -anfang bezieht sich jeweils auf die Buchseite, die Zahl vor den einzelnen Anmerkungen auf den Vers des betreffenden Textes oder Textausschnitts.

 

Diese zweisprachige Anthologie,

vorgelegt von ausgewiesenen Übersetzern und Literaturkennern, erschließt erstmals den ganzen Reichtum angelsächsischer Dichtung. Jeder Band ist leserfreundlich angelegt und enthält einen umfangreichen Kommentar. Mehr als die Hälfte der Gedichte, die den geschichtlich gewachsenen Kanon ebenso wie seine neueren Erweiterungen vorstellen, wurde dafür neu, nicht selten erstmals übersetzt. Eine großzügig angelegte zweisprachige Anthologie englischer und amerikanischer Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart in formbewußter Übersetzung – dergleichen gab es im deutschsprachigen Sprachraum bisher nicht. Daß in unserem europäisch gesinnten Zeiten endlich der Versuch gewagt werden mußte, diesem Mangel abzuhelfen, und daß dieses Wagnis dem interessierten Leser – sei er Fachmann oder ,nur‘ Literaturliebhaber – zugute kommt, führen die Bände der Anthologie auf jeder Seite vor Augen. Sie entstand in jahrelanger Zusammenarbeit von bekannten Übersetzern, Anglisten und Amerikanisten, die sich für Dichtung und ihre Übersetzung engagieren. Der Dichtungsbegriff, der dieser Auswahl zugrunde liegt, ist umfassend und unpuristisch: Erhabenes mußte in ihr ebenso seinen Platz finden wie Allzumenschliches, politische und religiöse Leidenschaft ebenso wie satirische Galle, Anstößiges und Exzentrisches ebenso wie humoristische oder Nonsens-Dichtung. Erstmals kommt hier für deutsche Leser der Kontinent der angelsächsischen Dichtung in seiner ganzen Breite und seiner geschichtlichen Tiefe in den Blick, wobei das poetisch reichbewegte 20. Jahrhundert besonders umfassend repräsentiert ist.

C.H. Beck Verlag, Ankündigung

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Kalliope +
Johann-Heinrich-Voß-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA
Nachrufe auf Eva Hesse: FAZ ✝︎ SZ

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