Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Gestriger Avantgardismus heute (Teil 2)

Gestriger Avantgardismus heute

Teil 1 siehe hier

Der radikale Bedeutungsentzug – man denke an die Nonsense-, die Lautpoesie der Futuristen und Dadaisten – sollte nicht allein die Materialität der Sprache und die Struktur der Texte neu erfahrbar machen, er war gleichermassen als Provokation des sogenannten gesunden Menschenverstands gedacht und darauf angelegt, althergebrachte Lese- und Schreibgewohnheiten zu konterkarieren.
Von daher erklärt sich die Vielzahl von Verneinungen, Imperativen, Interjektionen und typographischen Hervorhebungen in avantgardistischen (poetischen wie theoretischen) Texten von damals, vorab der vielstimmige Ruf nach Traditionsbruch und Zerstörung: «Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack!» – «Tod der Kunst!» – «Nieder mit dem Akademismus!» – «Schluss mit dem Realismus!» – «Über Bord die Klassiker!» – «Tod dem Mondschein!» – «Das letzte Requiem auf die Romantik!» – «Gegen alle Gestrigen!» – «Für eine chaotische Neuordnung!» Usf.
Das Chaos als neue Ordnung? Die avantgardistische Diktion führt mehrheitlich in die Sackgasse des Paradoxons, der Selbstwiderlegung oder schlicht der Unverständlichkeit. Vor hundert Jahren wurde solcherart – grundsätzlich ex negativo – mit spielerischem Ernst und zynischem Witz viel Neues durchgesetzt. Verfremdungen unterschiedlichster Art (Bruch und Neumontage; Präsenz statt Repräsentation; das Wort als autonomes Ding statt als Bedeutungsträger usf.) initiierten ein neues dynamisches Sehen, Lesen, Verstehen, erzeugten aber durch permanent enttäuschte Erwartungen naturgemäss auch weitläufige Irritationen.
Populär waren die «klassischen» Avantgardisten nie, sie waren für zwei Jahrzehnte en vogue, eher modisch denn nachhaltig. Doch ein Blick zurück auf ihre provokanten formalen und theoretischen Errungenschaften könnte (und sollte eigentlich) die Bequemlichkeiten des heute üblichen Lese- und Schreibverhaltens wenigstens momentweise in Frage stellen.

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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