Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Vom Leitwortstil in der Lyrik (Teil 3)

Vom Leitwortstil in der Lyrik

Teil 2 siehe hier

In heutiger Dichtung spielt der Leitwortstil kaum noch eine Rolle, nachdem er von ältern Autoren wie Leiris, Jandl, Jabès, Pastior, Cixous konsequent auch als Personalstil gepflegt worden ist. – Gern führe ich aber an dieser Stelle einen neuern Text an, der zeigt, wie ein Leitwort und dessen Lautqualität ein Gedicht gleichsam aus sich hervortreiben können. Das Leitwort ist in diesem Fall der Autorname Petrarca, der lautlich vielfach variiert und somit in immer wieder andern Konstellationen präsent gehalten wird. Das Gedicht entstammt dem Band «Strophen für übermorgen» (2007) von Durs Grünbein und klingt wie folgt:

PETRARCA

Sein Sarkophag in Arquà, eine Barke
Aus rotem Marmor, auf dem Bergkamm abgesetzt.
In diesem Adlernest hat er zuletzt gehaust. Hier starb er,
In seinem Reich, dem Reich der Sprache, Patriarch.

Frater Petrarca in der kargen Kluft, so karg
Wie keiner seiner Verse je: Aus solchem Felsgestein
Entsprang der Quell, sein steiler Sturzbach aus Canzonen.
Man sieht die Kammer noch, in der er sich verbarg.

Kein Katarakt wie dieser, und darunter, nackt
Seziert vor aller Welt: kein Herz wie seins. Da am Altar
In Arquà damals in Gedanken an die kalte Asche
Blieb auf der Zunge, salzig-süß, ein Nachgeschmack.

Das vorliegende Gedicht ist namentlich zwar Grünbein zuzuschreiben, gibt aber doch auch Anlass zur Frage, inwieweit es als dessen Werk gelten kann. Denn klar ist hier nachzuvollziehen, dass und wie die Sprache als solche an der Textentstehung beteiligt ist. Die Dominanz der a-Laute, die gleichsam den Kammerton des Gedichts bestimmt, wie auch die zahlreichen assonantischen Klangverbindungen (im Text fett hervorgehoben) sind durch die Sprache selbst vorgegeben, vom Autor also nicht geschaffen, sondern so arrangiert, dass daraus eine durchgehende melodische Linie sich entwickeln kann. Autorschaft beziehungsweise Originalität wird dadurch sichtlich relativiert, der produktive Anteil der Sprache an der Dichtung deutlich vor Augen geführt.

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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