Abgesang

W. O. hat mir als DVD einen russischen Dok-Film über Joseph Brodsky geschickt. Gezeigt werden lange Rundgänge des Dichters mit seinem Jugendfreund Jewgenij Rejn durch Venedig, dazugeschnitten gibt es Bilder aus Leningrad, aus Moskau usf. Viel Zeit nehmen Brodskys Rezitationen eigner Texte ein, die stellenweise durch den für ihn typischen Singsang und die gutturale, ans Hebräische erinnernde Aussprache beeindrucken, dann aber doch manieriert wirken, weil sie den Texten, vorab ihrer Thematik, in keiner Weise entsprechen. Bei längerm Hinhören wird auch deutlich, dass bei Brodsky die Vergangenheit, meist evoziert durch historische oder mythologische Stoffe, an die Stelle der fehlenden Zukunft tritt. Doch wem unter den Heutigen ist jene Vergangenheit noch präsent, jene geisterhafte, zauberhafte Welt, in der sich Faune, Kamenen, Halbgöttinnen, Heroen, Fabeltiere, Bibelgestalten und andre exotische Wesen tummeln? Und wer vermöchte all die vielen Referenzen und Reverenzen zu erhellen, die Brodskys dichterisches Weltbild durchwirken und zu einer Art Privatmythologie vernetzen? Ein Abgesang als Zukunftsmusik? Etwas muss dran sein an dieser poetischen Partitur, denn trotz ihrer schweren Lesbarkeit ist Brodsky zu einem epochalen und globalen Autor von enormer Wirkungskraft geworden; sein postumer Ruhm grenzt an Vergötterung, jeder von ihm gesetzte Vers oder beiläufig hingesprochne Satz gilt als Offenbarung. Doch was ist’s in Tat und Wahrheit, das diesem unzeitgemässen, kultur- und bildungsbeflissnen Autor Weltruhm eingebracht hat für seine elitäre antikisierende Dichtung, deren Zukunftstauglichkeit eher ab- denn zuzunehmen scheint?

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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