Handwerk

I

In den späten 1920er Jahren war Ludwig Wittgenstein mit dem Entwurf und der Errichtung eines Wohnhauses an der Wiener Kundmanngasse befasst. Da die Baukosten keine Rolle spielten, konnte er tun und lassen, was er für richtig, schön, funktional hielt. Daraus ist ein heute denkmalgeschütztes Gebäude entstanden, dessen Ausgestaltung – von der Lichtführung und den Raumproportionen bis zu den Türklinken und Wasserarmaturen – dem Willen des Philosophen vollkommen entsprach. Als handwerklich unbedarfter Laienarchitekt hat Wittgenstein, im Unterschied zu einem versierten Baumeister wie Adolf Loos, auf dem Papier ein Idealgebäude entworfen, ohne sich irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen und sich um dessen Lebensqualität zu kümmern.
Entstanden ist ein düsteres, unwohnliches Haus, das nicht zu erkennen gibt, wodurch es in seinem Innern zusammengehalten wird und zu welchem Zentrum es gravitiert. Wittgenstein hatte sich nach eignem Bekunden vorgenommen, nicht «ein Gebäude aufzurichten, sondern die Grundlagen der möglichen Gebäude» transparent werden zu lassen. Nicht um das Wohnhaus an der Kundmanngasse ging es ihm mithin, vielmehr darum, ein modulares Bauwerk zu schaffen, das für jegliche architektonische Gestaltung exemplarisch sein und überhaupt deren sämtliche Möglichkeiten in sich bergen, zugleich aber auch sie herausstellen sollte. Alles Handwerkliche und Technische musste zurücktreten hinter die Konzeption eines Architekturwerks, das – zum Wohnen kaum geeignet – als Wohnhaus an sich, als das Wohnhaus aller Wohnhäuser gedacht war.
Nur ein Jahrzehnt nach der Errichtung des Gebäudes distanzierte sich Wittgenstein von seinem Bauwerk mit der Begründung, es fehle ihm «an Gesundheit», an «ursprünglichem Leben», 
was wohl dem Eingeständnis entsprach, dass das Streben nach Vollkommenheit und Beispielhaftigkeit in diesem – seinem – Fall zu einem unvollkommenen – «ungesunden» – Ergebnis geführt hat. 

II

Der Soziologe Richard Sennett verweist in seinem historisch-kritischen Versuch über das Handwerk (2008) auf Wittgensteins Haus als Gegenbeispiel zu der material- und zweckorientierten beruflichen Arbeit von Meistern und Gesellen, deren Geschichte er, mit Blick auf die verschiedensten Metiers, von der Antike bis zur Moderne und damit zur Verdrängung des Handwerks durch industrielle Produktionsmethoden, vollends aber durch die zeitgenössischen elektronischen Technologien souverän nachzeichnet. Nur einmal, gegen Ende des umfangreichen Buchs, lässt Sennet sein Bedauern über diese jüngste Entwicklung anklingen, enthält sich aber jeglicher Klage oder Anklage. Trocken wird stattdessen konstatiert, dass der Beruf als lebenslängliche Berufung, als familiäre Verpflichtung oder frei gewählte Laufbahn in jüngster Zeit definitiv abgelöst worden sei durch den Job, der in der heutigen Multiqualifikationsgesellschaft des öftern gewechselt werde und der linearen Progression von Karrieren in früherem Verständnis weder entsprechen könne noch entsprechen wolle. «Die Menschen sollen eine Reihe von Qualifikationen erwerben, statt wie einst im Verlaufe ihres ganzen Arbeitslebens eine einzelne Fertigkeit zu entwickeln», stellt Sennett fest: «Die Abfolge unterschiedlicher Projekte oder Aufgaben lässt den Glauben schwinden, dass man dazu berufen sei, eine bestimmte Arbeit gut zu verrichten. Handwerkliches Können scheint besonders anfällig für diese Gefahr zu sein, da es auf langsamem Lernen und auf Gewohnheiten basiert. Die zugehörige Obsession scheint sich nicht mehr auszuzahlen.»
Wittgensteins Obsession war die Vollkommenheit des Modells beziehungsweise dessen Annäherung an ein Ideal. Handwerkliche 
Obsession indes hat weder das Ideal noch das Produkt zum Gegenstand, sondern allein den Herstellungsprozess. Dieser gewinnt an Interesse in dem Mass, wie er durch Einschränkungen unterschiedlichster Art (Zeitdruck, Materialbeschaffenheit, Kosten, Kundenwünsche usf.) behindert wird.
Hindernisse und Einschränkungen nicht nur zu bewältigen, sie vielmehr produktiv zu machen, gehört zu den Anforderungen jedes klassischen Handwerks. Der Handwerker reagiert grundsätzlich positiv auf Schwierigkeiten, deren Überwindung für ihn, als Risiko und Chance zugleich, gewissermassen zur permanenten Fortbildung gehört und als Voraussetzung für seine Meisterschaft unentbehrlich ist. So wie es kein Handwerk ohne Behinderungen gibt, kann es auch kein handwerkliches Produkt ohne zumindest minimale Mängel geben. Da solche Mängel für jedes einzelne Produkt spezifisch sind, haben sie integralen und bestimmenden Anteil an dessen Einzigartigkeit beziehungsweise Unverwechselbarkeit. Nur bei Serienprodukten treten Mängel als die immer gleichen auf und bilden daher kein Unterscheidungskriterium.
Doch nicht bloss ein souveränes Fehlermanagement und der prinzipielle Verzicht auf Perfektion macht das gute Handwerk aus, auch das Wissen um den fruchtbaren Moment des Aufhörens gehört dazu. Der Handwerker muss seine Obsession, seine Arbeitswut so weit beherrschen, dass er sein Produkt, auch wenn es noch mit Mängeln behaftet ist, zum richtigen Zeitpunkt aus der Hand legen, es gut sein lassen kann – dann also, wenn ihm klar wird, dass jede zusätzliche Bemühung das Werk gefährden, das Erreichte verderben könnte.
Nach Sennett besteht das Grundbestreben des Handwerkers darin, «eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen». Zwar hat jedes handwerkliche Produkt eine vorbestimmte Funktion zu erfüllen, für den Handwerker hat aber nicht das Ziel Priorität, sondern der Weg, der zum Ziel führt. Handwerkliche Skizzen lassen – anders als beispielsweise die Konstruktionspläne von Architekten oder Ingenieuren – erkennen, dass hier vorab festgehal
ten wird, in welcher Weise mit welchen Materialien zu verfahren ist, ohne dass die definitive Ausformung des Produkts bereits geklärt wäre. Dem Handwerker geht es primär darum, Fragen zu stellen, Probleme zu entwerfen, Verfahren via Versuch und Irrtum zu erproben, schliesslich die Regeln festzulegen, deren konsequente Einhaltung Schwierigkeiten mit sich bringt, oft aber auch die Genugtuung, durch Überwindung der Schwierigkeiten neue Herstellungstechniken erschlossen und immer wieder gute oder noch bessere Arbeit gemacht zu haben. Zuletzt tritt der Handwerker hinter sein Produkt zurück, das er wohl als seine Leistung, nicht aber als seine Schöpfung betrachtet, weshalb auch die meisten handwerklichen Erzeugnisse – vereinzelte Meisterstücke ausgenommen – unsigniert bleiben.

III

Abgesehen davon, dass es in der europäischen Poetik eine lange, von Horaz bis zu Francis Ponge und zu den Oulipoten reichende Tradition gibt, die das dichterische Handwerk von schöpferischer Eingebung klar abgrenzen, dem Machen also Vorrang einräumen vor der Gnade der Inspiration, fallen mir an dieser Stelle zwei ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche Autoren der klassischen Moderne ein, von denen beide die Anforderungen handwerklicher Meisterschaft, wie Sennett sie detailgenau herausarbeitet, auch für die Literatur reklamiert und bei ihrer eignen Schreibarbeit berücksichtigt haben.
Von Paul Valéry weiss man, dass er – herkommend von Edgar Allan Poes Traktat der Komposition – die Herstellung des Gedichts für wichtiger hielt als dessen abgeschlossne Werkform, und sein Diktum, wonach das Gedicht – jedes Gedicht – mehrheitlich aus gemachten («kalkulierten») und nur vereinzelt aus «eingegebenen» Versen besteht, ist weithin zum Slogan formalistischer Dichtung geworden. Polemisch weist Valéry jeglichen Geniekult zurück, ja, er macht dem als genial, als prophetisch, gar als theurgisch 
sich behauptenden Dichtertum zum Vorwurf, die Poesie verdorben, die Poetik verunklärt zu haben.
«Wenn das Genie nicht versteht, sich gegen sich selbst zu kehren, ist es in meinen Augen», so liest man in Valérys Notizen über Mallarmé, «nur eine angeborene Virtuosität von schwankender Qualität und Verlässlichkeit. Die Werke, die man einzig dem Genie verdankt, sind auf seltsame Weise aus Gold und aus Dreck komponiert: blendende Details, doch alle getrübt; rasch zersetzt die Zeit den Schmutz und spült ihn fort; von vielen Gedichten bleiben nur wenige Verse.» Das ist es wohl auch, was die Lektüre von Anthologien, die doch gemeinhin das Beste vom Besten enthalten, oftmals so frustierend macht – die ernüchternde Erfahrung, dass auch beste Texte nur vereinzelt aus lauter besten Versatzstücken bestehn und dass von zehn besten Gedichten in aller Regel deren neun nicht besser als gut sind. Damit ist jedoch nichts darüber gesagt, ob es sich bei den wenig zahlreichen besten Versen und Gedichten jeweils um «gemachte» oder um «eingegebne» handelt.
Es bedarf in unsrer Kunst», schreibt Valéry – ganz im Sinn von Richard Sennett – über den handwerklichen Charakter aller Schreibarbeit, «sehr grosser Geduld, Beharrlichkeit und grossen Fleisses, wenn wir ein Werk hervorbringen wollen, das zuletzt als eine Reihe von lauter glückhaft verknüpften Funden erscheint». Mit «Funden» sind hier jene poetischen Lösungen gemeint, die gleichsam selbstdynamisch (oder autopoetisch) durch die konkrete Arbeit am Text, mithin durch die Überwindung von Hindernissen und Schwierigkeiten aller Art überhaupt erst möglich werden. So wie gutes Handwerk auf funktionslosen Zierat verzichtet, gibt es auch in der artisanalen Dichtung keine «Details und Verzierungen des Texts, die ebenso gut fehlen könnten»; vielmehr erweisen sich hier rhetorische und poetische Formbildungen – Valéry nennt «Reime und Alliterationen einerseits, Figuren, Tropen und Metaphern andrerseits» – als «substantielle Eigenschaften des Texts: Der ‹Inhalt› ist nicht mehr Ursache der ‹Form›, er ist eine ihrer Wirkungen
Dem konstruktiven Schreibverfahren Paul Valérys steht Vladimir Nabokovs gleichermassen handwerkliche, jedoch rekonstruktive Poetik gegenüber. In einem Fernsehinterview von 1966 machte Nabokov klar, dass all seine Werkideen «blitzartig» – unbewusst – entstanden seien; dass ihm seine Romane in völliger Transparenz und Abgeschlossenheit vor Augen standen, vor Augen stehen mussten, um nachfolgend geschrieben werden zu können. Der Akt des Schreibens, auch für Nabokov nichts andres als strenge handwerkliche Kleinarbeit, ist hier, im Gegensatz zu Valéry, ausschliesslich darauf angelegt, eine vorgegebne Werkidee bis in alle Details im Medium der Sprache umzusetzen. Ebenso unabdingbar – und ebenso unerklärlich – wie für Valéry der «eingegebene» erste Vers ist bei Nabokov der jähe «Geistesblitz», der ihn das zu schreibende, genauer: das nachzuschreibende Werk in seiner virtuellen Vollkommenheit erkennen lässt. In beiden Fällen bleibt die Werkherstellung abhängig von einer ursprünglichen, immer unerwarteten, nie berechenbaren Gabe oder Eingebung, von dem somit, was Gottfried Benn, auch er ein dem Handwerk verschriebner Dichter, als den «dumpfen schöpferischen Keim» seines ansonsten rationalen Tuns bezeichnet hat.

IV

Heutigem Dichtertum geht das Ethos handwerklicher Arbeit weitgehend ab. Was an Schreibschulen gelehrt und im Betrieb praktiziert wird, ist nicht Handwerk, sondern Technik, und das Schreiben wird kaum noch als Beruf, mithin als Konkretisierung einer Berufung begriffen, vielmehr gilt es, wie irgendeine andre zeitweilige Lohnarbeit, als Job, für den man sich in Befolgung bestimmter Richtlinien qualifiziert, den man mit Vorliebe im Auf­trag erledigt und für den man sich nach vorab ausgehandelten Ansätzen bezahlen lässt. Handwerkliche Präzision und Unverwechselbarkeit – das, was man in unterschiedlichen Arbeitsbereichen (auch in dem der Literatur) einst als «persönliche Handschrift» belobigt hat und was Sennett als «operationale Intelligenz» bezeichnet – ist zu einer raren Qualität geworden, wie auch Qualität selbst rar geworden ist. Nicht Bestes, sondern Gängiges ist gefragt, und was Sennett im Hinblick auf heutige automatisierte Fertigungstechniken konstatiert, gilt ebenso für das Gros heutiger Literaturproduktion, nämlich «dass fast immer Mittelmässigkeit über Qualität siegt». Ob und wie die Wertschätzung des Schreibens als Qualitätsarbeit wieder hergestellt werden kann, bleibt unklar angesichts der zahllosen, aus den immer gleichen Versatzstücken zusammengebauten Texte, die heute vom internationalen Literaturmarkt gefordert, also auch gefördert werden.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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