Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( I.17 )

In Paul Valérys kleinen Versuchen über den Traum findet sich – ich beschränke mich auf ein einziges Beispiel – dieser Satz: „Dans le rêve, j’agis sans vouloir; je veux sans pouvoir; je sais sans avoir vu jamais, avant d’avoir vu; je vois sans prévoir.“ Das klingt vorab wie eine lyrische Strophe, ist aber – auch – eine ernst zu nehmende, hochverdichtete Abhandlung, für die ein anderer Autor wohl Dutzende von Seiten benötigt hätte. – Ich übersetze: „Im Traum handle ich, ohne zu wollen; ich will, ohne zu können; ich weiß, ohne jemals gesehen zu haben, bevor ich gesehen habe; ich sehe, ohne vorzusehen.“ – Man erkennt sofort, dass hier nicht begrifflich argumentiert, sondern mit Wortspielen improvisiert wird, und man stellt fest, dass der Erkenntniswert dieses einen Satzes keineswegs geringer ist, als es der einer wissenschaftlichen Studie sein könnte.
Doch die Aussage, genauer – das Sagen ist bei Valéry anders instrumentiert. Man beachte, wie aus sprachlichen Gleichklängen gedankliche Zusammenhänge erwachsen: vouloir > pouvoir > (voir) > avoir > (savoir) > prévoir usf.
Die Wort- beziehungsweise Lautfolge könnte ebenso gut einem Gedicht entstammen, so wie manche Verse und Strophen auch in einem Essay stehen könnten.
Das heißt?
Das heißt, dass hier das Sprachvertrauen jeder Sprachkritik und auch jeder Sprachbeherrschung vorgeordnet ist. Dieses Vertrauen teile ich mit Valéry, er kann also weder mein Vorbild noch ein Konkurrent sein. Was unsre ferne Verwandtschaft bezeugt, ist nicht das Geschriebene, es ist – das Schreiben.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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