Frank Milautzcki: Zu Jakob van Hoddis’ Gedicht „Weltende“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jakob van Hoddis’ Gedicht „Weltende“ aus dem Band Jakob van Hoddis: Dichtungen und Briefe. –

 

 

 

 

JAKOB VAN HODDIS

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

 

Das Manuskript von Jakob van Hoddis’ „Weltende“

 

Verwandlung und Gewinn

Ich fand zu ihm über Alfred Lichtenstein und ein Künstlerbuch. Für eine Anthologie mit erotischen Gedichten erforschte ich ein mir unbekanntes Gebiet, Dirnenlieder und Gedichte um 1900. Ich wurde fündig bei Frank Wedekind, Ernst von Wolzogen, Karl Henckell, Hanns von Gumppenberg und schließlich bei Alfred Lichtenstein, dessen „Erotisches Varieté“ mich faszinierte. Ich war damals Schichtarbeiter in der chemischen Industrie, hatte mit Literaturwissenschaft nichts zu tun, las aber Gedichte.
Selbstverständlich stieß ich bald auch auf Lichtensteins „Die Dämmerung“, einen Zwölfzeiler, den Kurt Pinthus in seine Menschheitsdämmerung aufgenommen hatte (in der ich später auch Georg Heym und Jakob van Hoddis entdeckte). Während der Nachtschicht, versteckt hinter Maschinen, studierte ich einen alten DDR-Band mit Texten von Lichtenstein, und immer wieder ging mir ein Gedanke durch den Kopf: Wie kann man nur so schreiben?
Daß diese Worte immer noch nachhallen, läßt mich hoffen, eine Antwort auf die Frage finden zu können, wie Literatur über die Zeiten hinweg begeistern, wie sie wirken kann. Liest man heute das 1911 erstmals veröffentlichte Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis, dann geben die acht Zeilen selbst eine Antwort: Der Leser findet sich und seine Realität darin wieder.
Im Expressionismus entstand eine Literatur, die eine Wunschfassung der Wirklichkeit von Amts wegen („die Realität“) auf ihre Erscheinungen zurückführt; und dadurch ad absurdum. Daß etwas ist, verschränkt sich damit, wie es scheint und erscheint. – Und wie reagiert der Dichter auf die Phänomene? Einfach, indem er sie anschaut, um dann mit Erstaunen festzustellen: Sie sind bereits aus sich selbst heraus, per se, poetisch. Man muß nichts mehr hinzuerfinden. Der Dichter (das lyrische Ich) stolpert in die Realität hinein und findet alles, was er (es) braucht. Die Welt muß lediglich beschrieben, aufgezählt und zusammengestellt werden: Bürger, Hüte, Dachdecker, wilde Meere, fliegen, abstürzen, steigen, zerdrücken. Es geschieht so vieles, gelegentlich sogar ein Weltende bzw. das Weltende.
Ich lese das Gedicht nicht (nur) als Prophetie, sondern (auch) als Klingelbeutel. Mit jeder Lektüre wird erneut etwas hineingelegt, wodurch dieses Gedicht angereichert wird mit etwas, das nicht verausgabt werden kann. Es läßt sich aus diesem Gedicht schlicht nichts herauslesen.
Es fehlt jede Fatalität. Die Wörter laufen gleichsam mit den Dingen mit und vollziehen eine atemberaubende Bewegung, das frühexpressionistische Gedicht als Pendant des frühen Kinos. Da ist nirgends ein Leitmotiv und auch kein Heysescher Falke oder eine ähnlich übersichtliche und referierbare Struktur; es ist das Spalier von bestimmten Artikeln, das den heillos bunten Bildern erlaubt, unheilverkündend hindurchzukommen. Gedanken an einen Spießrutenlauf liegen nicht fern. Erst der Blick, der nichts ausschließt, führt zu einem seltsamen Zauber, der auch andere Gedichte der Epoche prägt. Selbst „Weltende“, in dem Vertrautes fremd wird, weil es gefährdet ist, beschreibt einen Weltanfang, weil es eine außergewöhnliche Art des Sehens vorführt.
Eine handschriftliche Niederschrift von „Weltende“, die sich erhalten hat, enthält keine Verbesserungen. Für die Annahme, daß es sich um das Originalmanuskript handelt, spricht eine Veränderung in der (späteren) Druckfassung: Aus ursprünglich „sagt man“ wurde „liest man“. Das Blatt selbst ist schmal, Notizbuchpapier, mittlerweile fleckig. Die bleistiftgeschriebenen Zeilen setzen, mit einer Ausnahme, am linken Korrekturrand an, springen aber, weil sie länger sind als der zur Verfügung stehende Raum. Nur der letzte Satz beginnt direkt an der Papierkante, weil sonst auf der Seite kein Platz mehr geblieben wäre. Offenbar war es wichtig, daß das Gedicht auf einen Blick zu sehen ist, „Weltende“ als synoptische Katastrophe.
Jakob van Hoddis hat nur ein schmales Werk hinterlassen. 1918 publiziert Franz Pfemfert in der Buchreihe Der rote Hahn sechzehn seiner Gedichte unter dem Titel Weltende, die einzige Buchveröffentlichung zu Lebzeiten. Kurz danach wird das titelgebende Gedicht die Menschheitsdämmerung eröffnen. 1922 erscheint eine französische Übersetzung, „Fin du monde“, von Louis Aragon, der seinerzeit noch kein Kommunist, sondern noch Surrealist war. In seiner Übersetzung wird der Bürger zum „Bourgeois“, nicht zum „Citoyen“.
1922 war van Hoddis bereits in Heimen weggesperrt – man hatte Schizophrenie bei ihm diagnostiziert. Die letzte amtliche Akte, eine Deportationsliste, verzeichnet seinen bürgerlichen Familiennamen „Davidsohn“ (auf der Liste fälschlich: Davidson), der als Anagramm den Künstlernamen „Van Hoddis“ ergibt. Der Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt bei Koblenz wird als „laufende Nummer“ geführt – hinter seinem Namen ein Haken. Jakob van Hoddis, Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms, wurde 1942 in Sobibór ermordet.
An ihn und sein Gedicht erinnerte der alte Johannes R. Becher. Die Dichterfreunde seien durch die Zeilen verändert worden, die Welt habe sich als „bezwingbar“ gezeigt, schreibt der Ex-Expressionist, der zum Kulturminister der DDR avancierte. Um heute noch eine Dividende aus jener Metamorphose zu gewinnen – füge ich als ehemaliger Schichtarbeiter in der BRD hinzu (nicht alle Wege führen nach Bitterfeld) –, ist am Anfang vor allem eine Lektüre notwendig. Das Gedicht „Weltende“ bleibt auch ein Lob des republikanischen Lesens. 

Frank Milautzcki, Schreibheft, Nr. 92, Februar 2019

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