Fritz Mierau: Koktebel – Blaues Siegel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Fritz Mierau: Koktebel – Blaues Siegel

Mierau-Koktebel – Blaues Siegel

DAS HAUS DES DICHTERS I

Seinen vielen Freunden und Bekannten nach den Entbehrungen von Krieg und Revolution mit Koktebel einen Ort der Besinnung, der Muße bieten zu können, war Maximilian Woloschins innigster Wunsch. Man folgte seiner Einladung in den Süden um so lieber, als die Kunde von den Segnungen einer fröhlichen Abgeschiedenheit am Ufer des Schwarzen Meeres aus dem Munde ganz unterschiedlicher Zeitgenossen nach dem Norden drang. Die Schwestern Zwetajewa und Gerzyk schwärmten ebenso wie die Familien Mandelstam., Bely, Ehrenburg und Alexej Tolstoi vom Herrscher über das sagenhafte Kimmerien. Trotz gelegentlicher Missstimmungen und Zerwürfnisse vertrugen sich all diese nach Geist und Gemüt völlig anders gearteten Besucher. Sogar Valeri Brjussow, einer der ältesten Förderer Woloschins noch aus der Pariser Zeit, der sich nun den Bolschewiki angeschlossen hatte, besuchte Woloschin kurz vor seinem Tod im Sommer 1924, dankte ihm mit dem Gefühl, dass die Tage in Koktebel einen neuen „deutlich scharfen Trennstrich“ in seinem Leben bedeuteten, und er nannte Koktebel Russlands gegenwärtig „einziges literarisches Zentrum“ – in der Nachfolge von Lew Tolstois Jasnaja Poljana. Es war der geistige Anspruch dieses Kreises und besonders die unvermutete Versöhnung mit einem literarischen Gegner von einst, was die Begeisterung des Dichters hervorrief. Nirgends sonst in Russland sei ein Publikum zu finden, das mit so anhaltender Aufmerksamkeit selbst den raffiniertesten Sprachspielen folge. Und dann die Wiederbegegnung mit Andrej Bely. Die beiden hatten sich seit 1910 an den Endpunkten des russischen Symbolismus gegenübergestanden. Brjussow hatte den Symbolismus als reine Kunstauffassung vertreten, Bely für seine Ausdehnung auf ein Lebensprinzip plädiert. In einer Parodie auf einen französischen Kolonialfilm, die zu Woloschins Namenstagsfeier aufgeführt wurde, stießen die beiden zusammen: Brjussow spielte einen französischen Offizier, Bely einen aufzugreifenden Abenteurer. Bei der Probe sei es zu einem komischen Zwischenfall gekommen, als es darum ging, wer wen in Fesseln schlägt. Zorniger Dialog, als sei es ernst: „Ich Sie!“ – „Nein, ich Sie!“ Nächsten Tags im Morgengrauen die Versöhnung am Meer.
Bei all dieser Wertschätzung seines Kulturwerks versuchte der begehrte Gastgeber die Publizität des Unterfangens so gering wie möglich zu halten. Ende 1925 bat er den Leningrader Kunsthistoriker Erich Gollerbach um Verständnis für sein Veto gegen dessen Aufsatz über das Woloschin-Haus. De jure existiere die Künstlerkolonie gar nicht, sondern sei lediglich geduldet. Er habe sich mit Freunden beraten und man sei zu folgendem Schluss gelangt: am besten in der Presse nichts über Koktebel, schon gar nicht im Ausland. Lob und Tadel seien gleich gefährlich; einer schnappt was auf, die Hatz beginnt, da gäbe es kein Halten.

Beträfe es nur mich allein – wie ich ohne Hosen herumlaufe, im antiken Chiton, Kranz im Haar – sowas wäre ungefährlich, ja nützlich. Doch das wollten Sie ja wohl nicht schreiben?

Selber sah sich der Dichter in einem autobiographischen Siebenjahreszyklus als „Schriftsteller außerhalb der Literatur wie damals in der Vorkriegszeit“. Und ein junger Freund nannte ihn in Anlehnung an Woloschins eigene Bezeichnung für den Franzosen Barbey d’Aurevilly einen „Untergrundklassiker“.
Für die Künstler um diesen „Untergrundklassiker“ war der Name „Obormoty“ gefunden worden. Woloschin verwies auf die ästhetische Unabhängigkeit des Kreises und bezog sich wohl zunächst mehr auf die Lebensweise als „Nichtsnutze“, wie sich die gemischte Gesellschaft aus Schriftstellern, Malern, Sängern, Schauspielern und Musikern empfand, sah aber in der Unentgeltlichkeit des zum Teil monatelangen Unterschlupfs im „Haus des Dichters“ durchaus einen Modus kommunistischer Gemeinschaft.
Die ungebundene Geselligkeit der vielen Dutzend Besucher bescherte dem gastfreien Hause manche Last. Abgesehen von der immensen Korrespondenz zur Abstimmung der Termine musste für den Vorrat an Strohsäcken zur Nacht, an passenden Schlafstellen, an Geschirr, an Petroleum und für die Wintermonate an Heizmaterial gesorgt werden. Auch war ja das Haus sauber zu halten, was Maria Stepanowna mit solcher Energie betrieb, dass Woloschin sich eine Karikatur auf ihr „Großreinemachen“ nicht versagen konnte:

Marussja holt mit vollem Wassereimer zur Säuberung der Bücherregale aus, während rundum die Badegäste auf engstem Raum im Mittagsschläfchen ruhen.

In einem Brief an die befreundete Petersburger Malerin Anna Ostroumowa-Lebedewa schilderte Marussja 1927 ihre Lage:

Zimmer aufräumen und wischen, waschen, für die Lampen, für Holz, die Sachen und die Fenster sorgen, auch die Post – na, eben den ganzen Alltagskram + absolute Wüste + die elende Kooperative im Dorf, die man braucht + bezahlen jedes bisschen bei völligem Geldmangel. Und dann hören wir, dass man mich nicht leiden kann, mich fertigmacht hinter dem Rücken und – Koktebel wäre das Paradies, wenn es M. S. nicht gäbe. Meine Nerven sind in einem schrecklichen Zustand, in einer Woche habe ich 12 Pfund abgenommen.

„Kapieren die Leute denn nicht“, notierte Woloschin im gleichen Moment, „dass das Haus nur dank Marussjas Arbeit funktioniert und dass sie die Last dieser 500 Gäste eines Sommers trägt? Können sie ihr die so berechtigte ständige Klage angesichts des systematischen Ruins des Hauses und der Plünderung des Inventars (nicht aus böser Absicht, sondern Liederlichkeit und Schlamperei) nicht verzeihen, wo man doch das alles weder durch Spenden noch Konzerte ersetzen kann, sondern nur durch die Energie eines Menschen (eben Marussjas)?“ Max musste fürchten, dass diese Verdrießlichkeiten seine wahren Freunde abschreckten.
In Wirklichkeit gehörte das lose Regiment natürlich zum Charme von Koktebel und hat die Lesungen der Schriftsteller aus dem Norden oder die mehrfachen Liebhaberinszenierungen zu des Dichters Namenstag nicht beeinträchtigen können. So hat wie im Sommer 1923 Jewgeni Samjatin aus seinem Roman Wir im Sommer 1925 Michail Bulgakow – dessen Roman Weiße Garde Woloschin sehr schätzte und fortgeführt wünschte – seine Geschichte „Hundeherz“ gelesen, Texte, die von der Moskauer Zensur nicht wohlgelitten waren.
Selber fühlte sich Woloschin in der Ausgrenzung erschöpft.

Als ich noch die Möglichkeit zu veröffentlichen hatte, besaß ich meine Kriterien und meinen sicheren Blick. Aber jetzt lebe ich schon 16 Jahre ohne das alles.

Nur malend halte er sich aufrecht. Sergej Jessenins Selbstmord im Dezember 1925 nimmt er für ein schlimmes Zeichen:

Sein Tod bestürzte als ein neues Glied in dem allgemeinen Martyrologium der russischen Dichter – eine Offenbarung des Schicksals der begabten russischen Jünglinge. Der Schwall verlogener, übertriebener Artikel, bitter und beleidigend für ihn. Das glich einer nachträglichen Verunglimpfung des unglücklichen Knaben. So hasst das russische Publikum seine Dichter, solange sie leben: höhnt, verleumdet, verbreitet Klatsch, um dann die Toten, Erdrosselten, vom russischen Leben Erstickten auf Händen zu tragen – als Vorwurf für die am Leben Gebliebenen.

Während Woloschin offiziell als dekadenter symbolistischer Dichter behandelt wurde, der das russische Volk schlecht kenne und die Oktoberrevolution nicht verstanden habe, veranstaltete die Moskauer Staatliche Kunstwissenschaftliche Akademie 1926 eine Lesung zu seinen Ehren, an der sich u.a. Michail Bulgakow mit „Tschitschikows Abenteuer“ und Boris Pasternak mit Kapiteln aus Das Jahr 1905 beteiligten. An gleicher Stelle wurde – nachdem Woloschin an mehreren Ausstellungen im Lande vertreten gewesen war – in Anwesenheit des Dichters und seiner Frau eine Personalausstellung mit Woloschins Bildern eröffnet: 183 Aquarelle, fünf Temperaarbeiten, elf Federzeichnungen. Einer der Festredner, Sergej Durylin, wies auf die Unvollständigkeit der Präsentation hin:

Ginge es darum, Woloschins kimmerische Landschaften in ihrer ganzen Fülle zu zeigen, dann müssten wir neben die gemalten ihre gedichteten hängen, neben die Aquarelle die Sonette.

Darin dem Dichter folgend:

Ich bin dein Auge, offen in der Nacht.

In einer autobiographischen Notiz von 1930 würde Woloschin Stellung und Methode seiner Malerei beschreiben:

Ich male meine Aquarelle regelmäßig, jeden Morgen zwei bis drei, so dass sie gleichsam mein künstlerisches Tagebuch darstellen, in dem sich alle Themen meiner einsamen Spaziergänge wiederfinden und verflechten. In diesem Sinne ersetzen und verdrängen die Aquarelle alles, was früher meine Lyrik und meine Wanderungen am Mittelmeer waren. Es geht mir vor allem um die Darstellung von Luft, Licht, Wasser, um deren Anordnung mit Sinn und Verstand. Im Umgang mit der Natur folge ich der Sichtweise der japanischen Klassiker (Hokusai, Utamaro), die ich seinerzeit in Paris in der Nationalbibliothek gründlich studierte, wo sich im Kupferstichkabinett eine umfangreiche Sammlung japanischer Drucke befindet – von Théodore Duret. Dort ist mir vieles aufgegangen, zum Beispiel was die Darstellung von Pflanzen betrifft. Wo die europäischen Maler üppige dekorative Massen von Laub suchen (etwa Claude Lorrain), zieht der Japaner die Linie des Stamms senkrecht zu der des Horizonts und darum herum konzentrisch Spiralen von Zweigen mit ihrerseits unter bestimmtem Winkel verbundenen Blättern. Der Landschaftsmaler sollte die Erde so darstellen, dass man auf ihr gehen kann, und den Himmel, dass man fliegen kann.
Die ganze erste Hälfte meines Lebens habe ich große Wanderungen gemacht und bin die Ufer des Mittelmeers zu Fuß entlanggezogen. Diese Spaziergänge ersetzen mir jetzt meine Aquarelle.
Das ist das Land, das ich Tag für Tag durchstreife, immer gesehen unter dem Blickwinkel Kimmeriens, das ich im Kopf trage und in seinem Wechsel verfolge.

Dennoch empfand Woloschin diesen Zustand zunehmend als „Passivität“. Marussja verstehe sein Aquarellieren ohnehin nicht als das, was es für ihn ist, nämlich das Tonikum, das ihm sein seelisches Gleichgewicht sichere. Im Juni 1931 die enttäuschte Bilanz im Tagebuch:

Das Jahr 1930 war unfruchtbar. 1929 endete mit schwerer Krankheit. Am 9.XII.29 hatte ich einen Schlaganfall, in dessen Folge ich nicht mehr arbeiten konnte. Er war zwar leicht, aber er hatte die Hand getroffen. Ich konnte nicht schreiben. Die Kräfte kehrten im Laufe des Jahres allmählich zurück, laut lesen konnte ich auch wieder leichter. Doch hat die Widerstandsfähigkeit gelitten. Zum ersten Mal empfand ich in Koktebel Trauer und Langeweile. Jetzt ist schon 1931. Anderthalb Jahre fast keine Zeile geschrieben. Nur mit der Malerei ging es weiter.

Von Juni/Juli 1931 und dem ersten Halbjahr 1932 stammen weitere Aufzeichnungen, in denen er seine Niedergeschlagenheit angesichts der staatlichen Versorgungsbeschränkungen wie auch hinsichtlich seines Gesundheitszustands nicht verhehlt und die Ausreise nach Paris erwägt.

28.VI.1931. Gestern eine ganze Ladung Süßkirschen. – „Kauf welche, Marussja.“ – „Ist uns verboten.“ Sogleich das Gefühl heftiger Beleidigung. Das geschieht jetzt häufig. Wenn Du im Alltag auf so ein Verbot stößt. Wenn Fisch zu verkaufen nicht erlaubt wird (nur an Arbeiter). Wenn man dir kein Petroleum oder Brot gibt. Überhaupt erfährst du etwas von der Psychologie unterdrückter Klassen, das Gefühl des Aufruhrs und Protests wegen einer Beleidigung und nicht im Bewusstsein von Schuld (Berdjajew).
Das ist erniedrigend und kränkend. Unwillkürlich verneigst du dich vor jener großartigen Demut, die du jetzt häufig bei den entkulakisierten Bauern siehst. Aber dieser ,Aufruhr‘ ist unter den jetzigen Umständen ,Konterrevolution‘. Wie soll man das in Einklang bringen?

2.VII.1931. Beim Kaffee eine unangenehme Unterhaltung. „Ich werde dir weniger Brot und Zucker zuteilen.“ Ich wehre mich nicht. Das ist unausweichlich. Aber hat es Sinn? Ich nehme ab, wenn ich mich mit zusammengebissenen Zähnen zum Hungern entschließe. Sowieso immer nur in Schüben. Ich nehme gleich mehrere Kilo ab, dann stellt sich alles sehr schnell wieder her – der Appetit, das Gewicht. Auch das seelische Gleichgewicht. Die Spannung verschwindet und die Schwermut, mit der ich jetzt ständig zu kämpfen habe. Ich suche die Gründe für diese Schwermut, die dem russischen Leben allgemein eigen ist. Ich denke, das liegt an dem mangelnden Automatismus in den niederen Sphären des Lebens und Handelns: In jedem Fall (auch dem allergewöhnlichsten) muss man seine eigene (tragische) Antwort finden. Eine Antwort mit dem ganzen Wesen. Mit dem Schicksal. Nicht bloß mit Worten. Alles auf eine Karte setzend.

Eine Woche später Marussjas Selbstmordvorschlag für sie beide und Woloschins Erwägung:

Wenn ich so einen Ausweg ins Auge fasse, fände ich genügend überzeugende Argumente, mich nach Paris freizulassen. Nur dass es eben nicht als Erpressung herauskommen darf.

Maria Stepanowna hat in ihren eigenen Aufzeichnungen die nachlassende Kraft ihres Mannes beklagt und sein geduldiges Einverständnis mit seinem Los bewundert. Doch sein Tod am 11. August 1932 traf sie tief. Nun war sie mit dem Haus allein und es bedurfte großer Anstrengungen, um den Erhalt des „Hauses des Dichters“ und seiner Sammlungen zu sichern. Das Haus steht unter dem Schutz des Sowjetischen Schriftstellerverbandes. Als Kustos von Museum, Werkstatt und Bibliothek erhält Maria Stepanowna 150 Rubel monatlich sowie 200 Rubel für Verpflegung, Heizung, Beleuchtung und anfallende Reparaturkosten.
Woloschins Vermächtnis folgte sie nach seinem Gedicht „Das Haus des Dichters“ von 1926, das seine Schöpfung vor staatssozialistischen wie nationalsozialistischen (während der Besatzung der Krim durch die Wehrmacht) Missdeutungen zu bewahren geholfen hat. Darin die Verse:

Ich tat doch alles, den Brüdern zu wehren
Sich zu töten, einer den anderen.
Und las selber meinen Namen
In den blutgetränkten Todeslisten.

Die russische Auslandspresse berichtete mehrfach über den Tod des Dichters. Die sowjetischen Nachrufe betonten sein Unverständnis gegenüber der Oktoberrevolution. Alexander Fadejew, einer der Führer der stalintreuen Elite des Schriftstellerverbandes, nannte Woloschins späte Gedichte in der Presse „konterrevolutionär“. Maxim Gorki riet am 19. April 1932 in einem Brief an Emili Mindlin, Woloschins Koktebel-Kreis mit Nestor Machnos „Aufständischer Bauernarmee“ im ukrainischen Guljai Pole zu vergleichen, die als anarchistische Formation von der Roten Armee zunächst als Verbündete akzeptiert, später jedoch wegen eben dieser Struktur bekämpft worden war. Noch 1953 amüsierte sich Valentin Katajew in seiner Erzählung „Ewiger Ruhm“ über Woloschins kimmerische Phantasien. Erst 1977 – zum 100. Geburtstag des Dichters – erschien in der „Kleinen Reihe“ der Leningrader Bibliothek des Dichters eine Auswahl von Gedichten und kurz danach in Paris eine zweibändige Ausgabe (1982–1984). Vorbereitet und begleitet von Werkauswahlen und Spezialstudien kam 2003 bis 2015 die dreizehnbändige Gesamtausgabe unter Leitung von Wladimir Kuptschenko und Alexander Lawrow zustande.
Die bedeutendsten russischen Nachrufe schrieben unmittelbar nach Woloschins Tod Marina Zwetajewa und Andrej Bely, die Woloschin drei Jahrzehnte lang begegnet waren. Andrej Bely, der Woloschin seit der gemeinsamen Arbeit am Bau von Rudolf Steiners Goetheanum in Dornach genauer kannte, rühmte den Dichter als den weisen Schöpfer Koktebels – eines inspirierenden Geisteszentrums Europas. Marina Zwetajewa fasste Woloschins Wesen in dem einzigartigen Amalgam seiner Herkunft und Bildung:

Franzose in Kultur, Russe in Seele und Wort, Deutscher in Geist und Blut.

Während aber das Französische die Anziehung durch Fremdheit ausübe und auch das Deutsche nicht auf den ersten Blick zu gewahren sei – „weder seine immense Freundschaftsfähigkeit noch seine spontane Zutraulichkeit noch sein Tempo und Temperament“ wiesen darauf –, habe sich etwas offenbart, das Marina Zwetajewa Woloschins „Germanentum“ nennt: seine „Gründlichkeit“, seine „Leidenschaft, am Morgen zu arbeiten“, sein „Bücherkult und Bücherbesitzdrang“, seine „Sommerverehrung“, sein „Fußgängertum“, seine acht Monate Einsamkeit im Jahr, seine Ausdauer am Schreibtisch; weder Vagabund noch Pilger noch Flaneur sei er gewesen – ein Wanderer vielmehr. Beständigkeit und Beharrlichkeit in Sachen Freundschaft:

Er vereinte französische Geselligkeit mit solider deutscher Freundschaft.

 

Marina Zwetajewa: Erinnerungen an einen Lebenden

Und ich, Lauzun, mit Händen unbefleckt,
Hob den Pokal, prostete dem Pöbel zu!
Verkündete, daß gleichberechtigt sind
Holzfäller, Adlige auf dieser Welt!

Am 11. August, um 12 Uhr mittags, starb in Koktebel der Dichter Maximilian Woloschin.
Das erste, was ich nach der Lektüre dieser Zeilen, nach dem Schlag der Todesnachricht verspürte, war Genugtuung: mittags, zu seiner Stunde. Zur rechten Stunde? Ich weiß es nicht. Für den Dichter ist es immer an der Zeit zu gehen, er muss immer früh sterben, und mit den Kalenderjahren ist er weniger verbunden als mit den Jahres- und Tageszeiten. Auf jeden Fall starb er zur rechten Tages- und Jahreszeit. Am Mittag, wenn die Sonne im Zenit steht, auf dem Scheitelpunkt, zur Stunde, wenn der Schatten vom Körper besiegt wird und der Körper sich im Körper der Welt auflöst – zu seiner Stunde, zur Woloschin-Stunde.
Und just in seiner liebsten Jahreszeit, denn der 11. August (neuen Stils, Ende Juli alten Stils) ist der Mittag des Jahres – das eigentliche Herz des Sommers.
Und just zur Stunde Koktebels, das sich uns unter seinen zahllosen Gestalten als Sonne eingeprägt hat – wie Gott blickt sie dich unentwegt an, du aber kannst sie nicht anblicken.
Das Mal der Mittagssonne von Koktebel auf der Stirn eines jeden, der ihr je seine Stirn aussetzte. Eine so starke Sonne, dass die von ihr verursachte Bräunung durch keine Moskauer Winter, durch keine Erdbeerseifen zu tilgen war, eine so gute Sonne, dass sie trotz ihrer fünfzig Wärmegrade dem Dichter – vom ersten bis zum letzten Tag – jahrzehntelang dieses Doppelsymbol höchster Freiheit und höchster Achtung gewährt hat: ein unbedecktes Haupt. Wie in der Kirche.
Ich schreibe und sehe: ein Zeushaupt auf kräftigen Schultern, und auf dem dichten, unglaublich gelockten Haar ein schmaler Kranz aus Wermut, unbedingte Notwendigkeit, die von irgendwelchen Dummköpfen für Stilisierung gehalten wurde, ebenso wie sein langes Gewand aus Segeltuch, das (besonders unter Damen) Anlass zu heftigen Streitgesprächen bot und zur Spekulation, ob er darunter Hosen trage oder nicht. Segeltuch, Wermut, Sandalen – alles so rein und unvergänglich, warum darf der Mensch nicht das Reine vorziehen (es lässt sich waschen wie Segeltuch, es lässt sich wechseln und bleibt doch beständig wie Sandalen und Wermut) – das Reine und Unvergängliche dem Schmutzigen (Städtischen) und dem Zufälligen (Modischen)? Gibt es denn etwas Tödlicheres als das Städtische und Modische – am Meeresufer, bei solch einem Meer, bei solch einem Ufer! Meine Bekleidungsformel: Was bei Wind nicht schön ist, ist hässlich. Woloschins langes Gewand und sein Wermutkränzchen waren bei Wind schön.
Zu seiner Stunde also – um 12 Uhr mittags, zur Stunde des Pan, übrigens hätte er dieses Wort freudig bemerkt, denn er liebte die Archaik und das Gewicht der Wörter, zu seiner Tages- und Jahreszeit in Koktebel. Bleibt das vierte und wichtigste: zu seiner Wesenszeit. Denn Woloschins Wesen war ein – mittägliches, der Mittag aber ist von allen Tageszeiten die körperhafteste, gegenständlichste, mit Körpern ohne Schatten, mit Körpern, schlafend ohne Traum, oder wenn sich doch ein Traum einstellt – so ist es der Traum der Welt. Und gleichzeitig die magischste, mythischste und mystischste Tageszeit, so mago-mytho-mystisch wie die Mitternacht. Die Stunde des Großen Pan, des Demon du Midi, und unseres bescheidenen russischen Mittagsgottes, über den ich in meiner Kindheit im Gouvernement Kaluga mit eigenen Ohren vernahm: „Ljonka, lass uns baden gehen!“ – „Ich geh ni-i-icht: der Mittagsgott schleppt mich fort.“ Magie, Mythik und Mystik der Erde, der irdischen Materie.
So ist auch Woloschins Werk beschaffen, das nach den weiblich-genialisch-spontanen Worten der Dichterin Adelaida Gerzyk weniger Meer denn Festland, mehr Ufer als Flüsse enthält. Woloschins Werk ist kompakt, hat Gewicht, als wäre es das Werk der Materie selbst, mit Kräften, die nicht von oben kommen, sondern gleichsam aus dem Boden, aus dieser nicht nur durch und durch erwärmten, sondern verbrannten, trockenen, feuersteinharten Erde, über die er so viel ging und unter der er jetzt liegt. Denn dieser massige, fast märchenhaft massige Mensch („sieben Pud männlicher Schönheit“, wie er bescheiden verkündete) war ein unwahrscheinlicher Fußgänger, die sehnigen Füße in den Sandalen trugen ihn so hoch hinauf wie die Ziegenhufe die Ziegen. Ein unermüdlicher Fußgänger. Ein unersättlicher Fußgänger. Wie viele Male sind er und ich auf diesen vor Trockenheit klingenden Pfaden gegangen, oder pfadlos auf den Bergketten, zur Mittagszeit, ohne Kopfbedeckung, ohne Stock, ohne Hilfe der Hände, mit einem Stein im Mund (es heißt, ein solcher schütze vor Durst, doch vor dem Rededurst hat er uns nicht geschützt), so gegangen mit einem Stein im Mund und trotz des Steins und des ständigen Zusammenseins ununterbrochen redend wie Freunde, die sich gerade wiedersehen, stundenlang, jahrelang gegangen – immer hinauf, immer hinauf. Der Schweiß rann an uns herab und trocknete, nein, trocknete, bevor er zu rinnen begann, doch das Gespräch versiegte nicht – er war ein unermüdlicher Gesprächspartner, ebenso ausdauernd auf den Pfaden der Gedanken und Worte. Ein geborener Fußgänger. Und Kletterer.
Als ich ihn zum ersten Mal in der Tür unseres Moskauer Hauses an der Trjochprudny-Gasse erblickte, erschien er mir nicht so, oh, ganz und gar nicht! Es klingelt. Ich öffne. Auf der Schwelle ein Zylinder. Unter dem Zylinder ein riesiges Gesicht, eingerahmt von einem kurzen lockigen Bart. Eine sanfte Stimme: „Könnte ich Marina Zwetajewa sehen?“ – „Ich bin es.“ – „Und ich bin Max Woloschin. Darf ich eintreten?“- „Gern!“

 

Andrej Bely: Das Woloschin-Museum

Zu Besuch in dem Haus, in dem Maximilian Woloschin lange Jahre lebte, arbeitete, dachte und schrieb, war ich übervoll von starken, schönen, traurigen und in der Trauer freudigen Empfindungen. Traurigen, weil das bedeutende Leben eines großen Menschen vergangen war. Freudigen, weil die Spur dieses Lebens eindrücklich sich offenbarte in allen Einzelheiten seines Alltags. Kein Haus – ein Museum: ein Museum eigener Art.
Gewöhnliche Museen sind beherrscht von etwas Lebensfremdem. Museen bewahren üblicherweise die Spur vieler Leben, sie zeigen Einzelheiten und fassen nicht die Fülle des Lebendigen. Kunstmuseum, Buchmuseum, Ethnographisches Museum, Museum einer Epoche oder Literaturmuseum, sie bieten je eine Auswahl, ohne das Leben als ein Ganzes zu zeigen. Das Woloschin-Museum ist gleichsam das Abbild des Lebens eines einzelnen Menschen. Zugleich aber das Abbild Koktebels – sichtbar gemacht und gestaltet. Koktebel – das ist Woloschin in dem Sinne, dass der Dichter die Idee dieser Landschaft fand und sie in einer Vielzahl von Modifikationen gestaltete, wobei sich in Heimatliebe, Poesie, Landschaft – von der Meisterhand des Künstlers wiedergegeben – das antike Kimmerien und die verwandelten Spuren Griechenlands spiegeln. „Poesie ist reife Natur“, sagt Goethe. Kultur der Natur – etwas Neues in ihr sich offenbarend. Diese Eigenschaft der Natur, ihrer Menschen, der Gewohnheiten ihres Alltags ist gleichsam Keim. Und als Keim zeigt sie nicht die apollinische Schönheit des Profils eines erwachsenen Menschen. In Woloschins Poesie, in seiner wunderbaren Malerei, die die Idee des von ihm entdeckten Koktebel hervorbrachte, in dem ganzen Lebensstil, vom Entwurf des Hauses, der Lage der Zimmer, Veranden und Treppen bis hin zu den Landschaftsbildern des Malers, seinen Gemälden, Steinsammlungen, den Fossilienkollektionen und dem originellen Buchbestand seiner Bibliothek zeigt sich uns das von einem Schöpfergeist erlebte und zu kulturellem Leben erweckte Koktebel. Vierzig Jahre schaffenden Lebens und Denkens in Koktebel, Nachdenkens über Koktebel wurde zur Kultur eines wiedergefundenen Koktebel, das nun zu den großen Schöpfungen westeuropäischer Kultur gehört. Woloschin selbst, der Dichter, der Maler, der Weise, der den Stil seines Lebens den klaren Konturen der Berge von Koktebel, dem Rauschen des Meeres, den farbigen Ornamenten der Steine Koktebels verdankt, lebt in meiner Erinnerung als Verkörperung der Idee von Koktebel. Und sein Grab, das auf den Gipfel eines Berges entfloh, wirkt wie die Ausdehnung einer sich dem Kosmos anverwandelnden Persönlichkeit.

 

DAS HAUS DES DICHTERS II
Für Andreas Koziol

Bei den nie ganz endenden Einschränkungen ihrer Existenz hatten die Woloschins auch im Alter Zuspruch und Anteilnahme gefunden. So bestätigten die immer wieder bezweifelte Mietfreiheit ihres Domizils 1928 mehrere Dutzend ihrer Sommergäste in einer schriftlichen Adresse an die örtlichen Finanzbehörden.
Vermittelt durch die Schwestern Zwetajewa lernten die Woloschins den Charkower Dichter Jewgeni Lann kennen. Lann war Jurist und arbeitete mit seiner Frau als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen. Er half Woloschin bei der Beschaffung französischer Zeitschriften, was Ende der zwanziger Jahre noch möglich war. Lann war es auch, der das erste Woloschin-Bildnis entwarf, wovon die Einleitung als Buch unter dem Titel Maximilian Woloschins literarisches Schicksal 1927 in Moskau erschien. Lann stellte Woloschin als einen Einzelgänger vor, als einen „Untergrundklassiker“, der den Nachgeborenen die Frage aufgebe, mit der Lann seinen Text schloss:

Wie kam es, dass der Europäer Woloschin deutlicher als viele andere, die mit Russland nicht brachen, das wahrhaft Nationale unserer großen Revolution und die Rolle seiner Heimat in den Revolutionen der Zukunft empfand?

Wählte der zwanzig Jahre jüngere Lann für sich die Rolle des „einfachen Soldaten“ und für Woloschin die des „Generals“, so sah sich ein weitere zehn Jahre jüngerer Bekannter des Dichters, Kasimir Dobranizki, als unerklärten Adoptivsohn, der für den Vater auch wie ein Sohn sorgen wollte. Dobranizki war der Sohn eines sowjetischen Diplomaten, der mit seinen Eltern (auch wegen seiner Lungenkuren) schon weit in der Welt herumgekommen war und seinen leiblichen Vater wegen dessen Trennung von der Familie verloren hatte. Dobranizkis Besuch in Koktebel im Februar 1931 fiel in eine Zeit großer Not. Vor allem drohte erneut ein Angriff auf die „Immunität“ des „Hauses des Dichters“. „Dein Besuch war epochemachend in unserem Winterleben“, schrieb Woloschin im März 1931 an Dobranizki. Als leitender Funktionär in verschiedenen Staatsbetrieben, daneben ehrenamtlich tätig im politischen Zensurkomitee für das Künstlertheater, war er in der Lage, gewisse örtliche Schikanen gegen die Woloschins abzuwenden: Befördert durch Dobranizkis Einsatz, unter dessen Schutz sich die beiden Koktebeler wie „hinter einem Steinwall fühlten“, erhielt Woloschin ab November 1931 eine Rente von 225 Rubel monatlich, so wie auch die beiden Symbolisten Andrej Bely und Georgi Tschulkow. Zu korrigieren war auch die Absicht des Moskauer Schriftstellerverbandes, das ihm von Woloschin geschenkte „Haus des Dichters“ an den Parteiverlag weiterzugeben (der es sommers zur Miete anbieten würde), was Woloschin tief verletzte.
Im August 1932 starb Maximilian Woloschin. Seiner Frau Maria Stepanowna lag vor allem daran, die Erinnerung an Max, den Hausgründer, Einrichter, den „Sammler“ des „Hauses des Dichters“ zu bewahren. Sie änderte sogar den Titel ihrer umfangreichen Schrift, die sie im Dezember 1938 begann, von „Haus des Dichters“ auf „Max in seinen Dingen“. Zum Schluss des achtzigseitigen Berichts Woloschins Lob der letzten Zeitschriften, die er aus Mangel an lohnend Russischem nach Samjatin, Bulgakow und Juri Tynjanows Tod des Wesir-Muchtar (einem Roman, den er dreimal las) zur letzten Lektüre wählte – der Hefte 12 bis 16 vom Mercure de France des Jahrgangs 1928.
Diese minutiöse Beschreibung der Gliederung und Ausstattung sowie der Sammlungen des Hauses erzählt zugleich von den Gewohnheiten und Vorlieben des so hoch- wie eigensinnigen Mannes. Zu Anfang das Erlebnis der Hochachtung vor den edlen Klavieren im Magazinraum eines Freundes, eines Musikinstrumentenhändlers, die ihm nicht erlaubten, sich in dem zur Nacht überlassenen Raum auszuziehen, so dass der Dichter die Schlafenszeit angezogen sitzend im Lehnstuhl verbrachte.
Dieser Text wie auch ihre Aufzeichnungen während der deutschen Besatzung der Krim 1941 bis 1944, zu denen sie sich immer wieder zwingen musste, blieben bis zum Ende der Sowjetunion unveröffentlicht. Aber Maria Stepanownas mündliche Erzählungen und briefliche Schilderungen hielten die Erinnerung an den schweren Kampf für das „Haus des Dichters“ wach.
Als sich die deutsche Wehrmacht der Krim näherte, galt von sowjetischer Seite der Befehl, alle bewohnbaren Stätten zu zerstören, und auch um das „Haus des Dichters“ hatten die Behörden schon begonnen, benzingetränkte Strohballen zu schichten. Es war der Dichter Ilja Selwinski, damals Soldat, der im Auftrag des Schriftstellerverbandes die Entzündung verhinderte. Als dann die deutschen Truppen einrückten und das „Haus des Dichters“ als die einzige stehengebliebene Unterkunft für die Soldaten requirierten, hatte Maria Stepanowna inzwischen die Manuskripte, Bilder und Dokumente mit Hilfe von Freundinnen vergraben. In einem Brief vom Juni 1944 die Schilderung:

Dreimal hatte man versucht, mich aus dem Haus zu jagen – die Deutschen natürlich. Doch ich blieb und ging nicht eine Stunde von hier weg. Riskierte das Leben. Aus dem Haus zu gehen wäre schlimmer gewesen als der Tod. Der Tod wäre in diesen Momenten sogar eine Erlösung gewesen. Vor Verzweiflung und Angst hatte ich alles vergraben – ohne Kisten, einfach verpackt in Lumpen. Alles, alles war vergraben, bis zum letzten Buch, alle Aquarelle. Und als die Rumänen mich einmal aus dem Haus zu jagen versuchten, musste ich, um zu beweisen, dass ich hier nicht einfach mit zwei alten Frauen existiere, dass hier ein Museum sei und nicht nur kahle Wände, alles auf die Schnelle wieder herausholen. Durch unser dilettantisches Vorgehen, das Gewicht und die Nässe haben viele Dinge gelitten… Hier wurden alle Juden (in Koktebel gab es nur drei) erschossen… Nach Masjenkas [Max’] Tod war die Okkupation das schlimmste, was ich durchmachen musste. Ja. Und weiter – Leiden, Schrecken, Empörung, Angst usw. 2½ Jahre. Ich habe mich sehr bemüht und Tag für Tag mit ihnen gekämpft um jede Tafel, jeden Fetzen – nichts hab ich aufgegeben, selbst bei Lebensgefahr. Mit Angst sehe ich jetzt, wie lächerlich und naiv das war. Aber das war damals mein Leben. Ergebnis – Magenkrebs. Die liebe Antschuta [Anna A. Karago] hat mich gerettet und mir geholfen, wie oft war sie mein Schutzengel.
Und jetzt – das ,Haus des Dichters‘ steht wie ein Leuchtturm allein an dem ganzen Ufer – schäbig, ohne Scheiben, wacklig, mit Löchern im Dach, kaputten Wänden, aber so vertraut, so herrlich und teuer. Alles blüht jetzt, duftet. Trümmer ringsumher und Ruinen. Das Haus allein erhebt sich über Einst und Jetzt. Tajach steht verbunden (sie hat mit Maxens Pariser Büste am meisten gelitten). Sie muss restauriert werden.

Das Gegenbild zum Zerstörungswerk gab es auch. Am 5. Mai 1942 verfügte der Wehrmachtskommandant, nach Kriegsrecht hätten Armeeangehörige keinen Zutritt zu dem Museum des russischen Dichters Woloschin.
Im Herbst 1942 schenkte eine Frau Elsa Stalinski aus Karlsruhe Maria Stepanowna den kurz zuvor in Potsdam bei Rütten und Loening erschienenen Feldpostband mit Gedichten von Joseph von Eichendorff Trost der Welt.
Und im Januar 1944 ließ sich Maria Stepanowna kurz vor der Rückeroberung der Krim durch die Rote Armee nach anfänglichem Widerstand in Simferopol von einem deutschen Militärarzt ihren Magenkrebs operieren… und konnte nun ihren Kampf für den Erhalt des „Hauses des Dichters“ fortführen.
Immer wieder an ihren Kräften zweifelnd, verzeichnet Marussja ihre Ängste und Hoffnungen. Im Januar 1945 trägt sie nach einer schweren Verletzung ihrer rechten Hand ins Tagebuch ein:

Was ich mir auch sage – ich bringe mich nicht dazu, systematisch zu schreiben. Jetzt die Ausrede: gebrochene Hand. Aber es geht – macht Mühe, doch schreiben kann ich. Und werde, werde es tun. Meine Kräfte schwinden. Zwei Nächte war mir nicht gut: kann nicht liegen, das Herz macht nicht mit. Schade um das Haus. Ohne mich wird es eingehen, fürchte ich, es wird nicht mehr sein, was es war, was es sein soll. Doch was kann ich? Ich habe es nur gehütet und es war für viele sehr viel. Selbst unter den günstigsten Umständen, wenn ich gesund bleibe, sagen wir 5 bis 10 Jahre noch, dann sterbe ich sowieso. Aber dann kommt vielleicht die Zeit, sich mit Max zu beschäftigen, ihn zu studieren… Das würde ich selber gern sehen und mich überzeugen, dass für Max etwas getan wird.

 

 

 

Fritz Mierau

(geboren 1934 in Breslau, gestorben 2018 in Berlin) war Slawist, Übersetzer, Essayist. Schon in seiner Autobiographie Mein russisches Jahrhundert (2002) schilderte er einen Besuch 1965 in Koktebel auf der Krim – im Haus des russischen Dichters und Malers Maximilian Woloschin (1877–1932), der sich als Mittler zwischen den Kulturen Europas und Asiens sah, im Bürgerkrieg zwischen den Fronten stand, die einen vor den Roten rettete, die anderen vor den Weißen.
Woloschin hatte einige Jahre zuvor in Paris gelebt; sein Verlangen, „nach Haus, nach Paris“ zurückzukehren, ging einher mit dem „nach einem kräftigen Schluck russischer Luft“ und dem nie erfüllten Wunsch, „für ein paar Jahre in den Osten zu gehen“, als Lama an den Baikalsee, als Zeichenschüler nach Japan.

Fritz Mierau beendete die Arbeit an diesem letzten Manuskript eine Woche vor seinem Tod.

PotemkinPress, Klappentext, 2020

 

 

Fakten und Vermutungen zu Maximilian Woloschin
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Alexander Nitzberg rezitiert von Maximilian Woloschin „Der Leviathan“.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Gespräch + Archiv + Kalliope
Nachrufe auf Fritz Mierau: Süddeutsche Zeitung ✝ Börsenblatt ✝ FR ✝
Zeit ✝ Tagesspiegel

 

Fritz Mierau: Ein biographisches Interview (Auszüge aus ca. 17 Stunden Videomaterial, 2006/2007) von Dietmar Hochmuth.

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