Else Lasker-Schüler: Mein blaues Klavier

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Else Lasker-Schüler: Mein blaues Klavier

Lasker/Schwarz-Mein blaues Klavier

ABENDZEIT

Erblaßt ist meine Lebenslust – …..
Ich fiel so einsam auf die Erde,
Von wo ich kam hat nie ein Mensch gewußt,
– Nur du, da ich vereint einst mit dir werde.

Ich bin von Meeresbuchten weit umstellt,
Jedwedes Ding erlebe ich im Schaume.
Der Mensch, der feindlich mich ereilt, zerschellt!
Und ich weiß nur von ihm im Traume.

Und so erlebe ich die Schöpfung dieser Welt,
Auf Erden schon entkommen ihrer Schale.
Und du der Stern, der hoch vom Himmel fällt,
Vergräbt sich tief in meines Herzens Tale.

Die Abendzeit verdüstert sehr mein Blut –
Durchädert qualvoll meine müde Seele.
Nackt steigt sie wieder aus der vorweltlichen Flut
Und bangt, daß sie verkörpert hier auf Erden fehle.

Und was der Tag, noch ehe er erwacht,
Versäumte morgenrötlich zu erleben,
Reicht ihm das träumerische Bilderspiel der Nacht
In lauter bunterlei Geweben.

Es bringen ferne Hände mir nach Haus
Aus gelben Sicheln einen frommen Strauß.
Der Zeiger wandelt leise um das Zifferblatt
Der Sonnenuhr, die Gold von meinem Leben hat.

Sie glüht vom Pochen überwacht
Und läutet zwischen Nacht und Mitternacht …..
Da wir uns sahen in der rätselhaften Stunde –
Dein Mund blüht tausendschön auf meinem Munde.

All meine Lebenslust entfloh
Im dunkelen Gewande mit der Abendzeit.
Ich suchte unaufhörlich einen Himmel wo …..
Nur in der Offenbarung ist der Weg zu ihm nicht weit.

 

 

 

Biografische Aufzeichnungen und Dokumente

Prinz Jussuf in Jerusalem

Mitte Mai 1937 begann es bei mir Karten und Briefe [jeder ein Kunstwerk an Wort und Bild und ein Irrgarten der Schrift] zu regnen. Else Lasker-Schüler, „Jussuf, der Prinz von Theben“, rüstete zur Fahrt ins Bibelland. Diese Fahrt war eigentlich eine Wiederkunft, denn schon 1934 war die Dichterin in Palästina gewesen, und nun lag bereits ihr phantastisch-bunter Reisebericht Das Hebräerland vor. Wir – meine Frau und ich und ein kleiner Freundeskreis – freuten uns herzlich, Else Lasker-Schüler bald in den Mauern Jerusalems, der heiß geliebten Urheimat ihrer Hebräischen Balladen, empfangen zu dürfen.
Wir dankten dem großzügigen „Lloyd Triestino“, der Prinz Jussuf eingeladen hatte, auf einem Schiffe der Gesellschaft wieder in das geliebte Hebräerland zu reisen, aber es gab noch allerlei zu erledigen, um die Ankunft im Lande zu ermöglichen, und mir fiel das Amt zu, bei der Jewish Agency, dem Rektor der hebräischen Universität und da und dort alles Nötige zu bestellen. Die „geflügelten Boten“ der Luftpost eilten zwischen Jerusalem und Zürich [dem damaligen Wohnorte der Dichterin] in verschwenderischem Maße hin und wieder, und endlich, am 16. Juni 1937, war Prinz Jussuf da.
Ihre Ankunft mußte geheimgehalten werden, denn Else Lasker-Schüler hatte beschlossen, ihre Freunde und Bekannten zu überraschen, ja sie wollte sogar bei einigen zur Essenszeit zum Fenster hereinklettern, um die Überraschung noch zu erhöhen, „denn ich bin’n Tiger“, erläuterte sie ihr Vorhaben.
Gegen Abend kam ich ins Hotel Vienna, in dem die Dichterin abgestiegen war. Ich muß gestehen, daß der erste persönliche Eindruck der Frau, deren Verse ich tief verehre, ein erschütternder war. Ein müder Mensch, dessen Antlitz von zerstörter Schönheit zeugte und in dessen großen schwarzen Sulamith-Augen der Wahnsinn aufloderte, saß mir gegenüber. Es war eigentlich kein Sitzen, sondern mehr ein Kauern. Ich wurde stark an wahrsagende Zigeunerinnen erinnert, ja dieser Eindruck wurde durch die exzentrische Kleidung der Frau – Pelmütze im drückend-heißen Sommer und übergroße korallrote Ohrringe – noch erhöht.
Etwas Müdes, Gehetztes, von namenloser Furcht Getriebenes beherrschte diese [kein anderes Wort ist hier tauglich] gequälte Kreatur. Wie ein gefangenes Tier rannte sie in dem engen, ungemütlichen Hotelzimmer auf und nieder, bejammerte hemmungslos die Kargheit dieses Raumes, wies aber meinen Vorschlag, in ein anderes Hotel, oder noch besser in eine wohnliche Pension umzuziehen, mit Entrüstung, ja geradezu mit Erbitterung zurück.
„Herr Korin“ [sie sagte nie anders zu mir], flehte sie mich an, „ich beschwöre Sie, sagen Sie nichts zu den Wirtsleuten… sie sind ja so lieb zu mir gewesen. Überhaupt, ich kann es nicht ertragen, wenn man mir helfen will. Die Leute meinen immer, der Dichter brauche Hilfe, aber das stimmt nicht: wir Dichter sind doch immer die Klügeren und behalten zum Schluß gegen die Bürger recht.“
Am aufgebrachtesten war sie aber gegen das sogenannte „Rescheth“ [Mückennetz] vor ihrem Fenster. Sie mutmaßte, man habe diese nützliche Vorrichtung ihr zum Ärgernis angebracht und nur unter Aufbietung meiner ganzen rhetorischen Fähigkeiten gelang es mir, sie davon abzuhalten, das Drahtnetz mit einer kleinen Schere zu zerstören.
Ich schrieb die sonderbare Erregtheit, welche die Dichterin bei dieser ersten Begegnung beherrschte, den Strapazen der Reise zu und empfahl mich, sobald es ging. Aber es ging nicht bald. Sie hatte zuweilen panische Angst vor dem Alleinsein und bat mich geradezu flehentlich, sie nicht zu verlassen.
Als wir uns anderen Tages in einem Café trafen, war sie wesentlich aufgeräumter als tags zuvor. Sie liebte es nicht, über Dinge der Kunst zu reden, ihre Leidenschaft gehörte – eingestandenermaßen – der Politik. Und so kam das Gespräch auf die gespannte Lage, die in diesen Sommertagen blutiger Unruhen Palästina beherrschte.
„Wissen Sie, wer hier Präsident werden sollte?!“ fragte sie, plötzlich das Gespräch unterbrechend, und ohne eine Antwort abzuwarten, gab sie sie selbst: „Fritz von Unruh!“ Ich war einigermaßen erstaunt, den großen rheinischen Dramatiker als Präsidenten des Heiligen Landes kandidieren zu sehen. Aber die Dichterin ließ sich nicht beirren.
„Ja, Unruh wäre der Richtige“, sagte sie, „der könnte schon mit den Arabern reden… er hat es mir auch selbst in Padua gesagt, daß ich hier einmal das Terrain für ihn sondieren soll.“ Meinen scherzhaften Einwand gegen ihren Präsidentschaftskandidaten, daß wir in Palästina seit Jahren „Unruh“ genug hätten, wies sie ärgerlich zurück. Sie war sichtlich gekränkt, daß ich den Vorschlag nicht ernst genug nahm.
Nachdem wir uns darüber verständigt hatten, daß ich dort wohnte, „wo die wilden Juden in den schwarzen Zelten hausen“ [sie meinte ein Beduinenlager], kam sie am 27. Juni zu uns zum Abendbrot. Ich hatte ihr schriftlich ihre Lieblingsspeise, Schokoladenpudding mit Himbeersauce. zugesagt, und es wurde ein Fest. Wie ein Schulmädchen konnte sie lachen und die tollsten Streiche erfinden. So beschlossen wir, an diesem Abend eine „Räuberhöhle“ in dem wohlhabenden Stadtteil Rechavia zu gründen und zwei Professoren der Universität, die einander spinnefeind waren, fingierte Einladungen zuzusenden, so als lüde einer den anderen zu sich zum Tee ein. Als wir später in meinem Zimmer beim Kaffee saßen und ihr Blick auf das schöne Bildnis Stefan Georges von der Hand Curt Stoevings fiel, erzählte sie von ihrer ersten und einzigen Begegnung mit dem Meister. In Berlin war es um die Jahrhundertwende, als sie dem Manne, der wie ein nordischer König aus den Sagas durch die laute Stadt ging, auf der Straße begegnete. Zufällig trug Else Lasker-Schüler eine Blume in der Hand, und so trat sie auf den stillen Mann im schwarzen, priesterlichen Rock zu und überreichte ihm wortlos die Blume. Dann erst sagte sie:

Ich bin Joseph von Ägypten.

George nahm die Blume der Huldigung an, lächelte ihr zu und verschwand im Gewühl der Straße.
Noch einmal trat sie in den Bannkreis Georges. Das war in München, als sie verkleidet als Joseph von Ägypten [ihre Lieblingsmaske] bei Karl Wolfskehl erschien, aber auf Zehenspitzen – und durch die Küche – wieder gehen mußte; weil der Meister schlief.
Von der zeitgenössischen deutschen Literatur pflegte sie übrigens zu sagen:

Ich kenne die Leute doch alle – wozu soll ich noch ihre Bücher lesen?

Sie kannte tatsächlich alle. Auch Gerhart Hauptmann, der ihr gram war, weil sie zu ihm sagte:

Sie sehen aus wie die Großmutter von Goethe…

Es wäre unwahr zu sagen, daß sich Else Lasker-Schüler während ihres Aufenthaltes in Jerusalem wohl fühlte. Vergeblich suchte sie in den Straßen der neuen Stadt [die Altstadt war aus Sicherheitsgründen nur selten zu besuchen] das Jerusalem ihrer Träume und Verse. Die Geschäftigkeit der Menschen stieß sie ab, und sie war unglücklich, in der Urheimat ihrer traumöstlichen Dichtung auf sehr wenig Verständnis zu stoßen.
Eines Tages erhielt ich eine Karte von ihr, in der sie mich bat, sie noch am Abend im Hotel aufzusuchen, sie habe dringende politische Projekte mit mir zu besprechen. Da ich aber für den Abend schon verabredet war, kam ich am Spätnachmittag ins Hotel, um mich zu entschuldigen. Sie war tief unglücklich über meine Absage und beschwor mich, sie in der Nacht noch – wann auch immer – aufzusuchen, die Sache dulde keinen Aufschub, und das Wohl und Wehe Palästinas hinge davon ab.
Gegen elf Uhr kam ich wirklich nochmals ins Hotel, sie hatte auch auf mich gewartet, war aber vor Übermüdung auf einem Stuhl in der Halle eingeschlafen. Am nächsten Morgen trafen wir uns in einem Café. Nur zögernd konnte sich die Dichterin dazu entschließen, ihr Projekt preiszugeben.
„Wir werden alle ausgesorgt haben, wenn die Sache wird“, versicherte sie mir, „Sie werden Direktor, aber ich selbst muß immer noch entscheidende Stimme im Direktorium haben.“
Ich war mächtig gespannt. Nachdem ich tiefste Diskretion zugesagt hatte, begann sie:

Wissen Sie, wie man das jüdisch-arabische Problem lösen kann? Es gibt nur einen Weg: Freude schaffen. Wir gründen einen Rummelplatz für Juden und Araber, den beide Völker besuchen werden und wo sie gemeinsam Reibepfannkuchen essen, Karussell fahren und Glückshafen spielen.

Sie erging sich sodann in anschaulichen Schilderungen vor allem des Karussells und gab mir – vertraulich – Rezepte für die Reibepfannkuchen. „Über dem Eingangstor zum Rummelplatz aber muß stehen ,Für Gott‘“, schloß sie ihren mit unerhörtem Elan gehaltenen Vortrag.
Wir erwogen sodann die Möglichkeiten, den Plan – bei Wahrung der geistigen Urheberschaft – publik zu machen, und Else Lasker-Schüler wollte, daß wir sofort nach Zürich abreisten, wo der 21. Zionistenkongreß tagte. Dort wollte sie vor das Plenum hintreten und ihren Plan der Öffentlichkeit enthüllen.
Es gelang mir nur schwer, sie von diesem Vorhaben abzubringen. Wütend wurde sie aber, als ich ihr auseinandersetzte, daß auf dem Kongreß nur Delegierte sprechen dürfen. „Und mich wird man nicht sprechen lassen?“ fragte sie gereizt und fügte abschließend hinzu:

… ich bin’n Fürst.

Einige Tage später erwähnte sie den Plan nicht mehr, und es hatte fast den Anschein, als sei die ganze Sache in Vergessenheit geraten…
Das tiefste Wort über ihr rätselhaftes Wesen sagte die Dichterin selbst eines Tages ganz unvermittelt, als ein jovialer alter Herr, der sie noch aus Berlin kannte, auf der Straße in Jerusalem sie herzlich begrüßen wollte. „Wer sind Sie denn?“ fragte die Dichterin, ihn mit ihren großen, scheuen Augen von unten her ansehend. „Ich kenne mich selbst nicht, wie sollte ich da Sie kennen?“… und ließ den Verdutzten stehen.
Ich kenne mich selbst nicht war in ihrem Munde keine Phrase. Sie blieb sich tatsächlich selbst Geheimnis, was sich insbesondere in ihrer Beziehung zum eigenen Werk ausdrückte. Sie stand ihm nicht kritisch-wägend gegenüber, wie sonst ein Autor seinen Büchern. Sie lehnte jeden Wert-Unterschied zwischen ihren Schöpfungen kategorisch ab, da sie ihnen den Rang von Offenbarungen beimaß und einmal im Gespräch mit Martin Buber auch öffentlich den Offenbarungs-Charakter ihrer Dichtung betonte.
War sie so erfüllt von ihrer prophetischen Sendung, so darf man sie sich nicht etwa feierlich-pathetisch vorstellen. Im Gegenteil: sie sprach sehr salopp. Sie war schlagfertig und voll Humor [allerdings nicht mehr in der letzten Zeit]. Als ich sie einmal zum Abendessen einlud, nahm sie die Aufforderung gerne an und fügte hinzu:

Machen Sie Umstände, Butterbrot hab ich all eine.

Zur Schande Jerusalems muß es gesagt werden, daß es nicht ganz leicht war, einen Vortrag der Dichterin in der Heiligen Stadt zu veranstalten. Die zentralen zionistischen und kulturellen Körperschaften der Stadt sahen ihre Aufgabe keineswegs darin, die größte lebende Dichterin des jüdischen Volkes in gebührender Weise zu ehren, ja, nur den Rahmen zu schaffen für einen würdigen Rezitationsabend.
So mußte von privater Seite dafür gesorgt werden, daß Else Lasker-Schüler vor den zahlreichen Verehrern ihrer großen Kunst ihre unverwelklichen Verse und ihre buntschillernden Geschichten lesen konnte. Rabbiner Dr. W. und ein Jerusalemer Buchhändler hatten einen hübschen Saal in Rechaviah gemietet, die Dichterin bestand darauf, selbstgeschriebene und mit dem Davidstern geschmückte Plakate in den Buchhandlungen der Stadt auszuhängen, und durch mündliche Propaganda waren alle Freunde der Dichtung benachrichtigt worden.
Die Vorlesung selbst war ein durchschlagender Erfolg. Alles Müde, Zerstreute, Gehetzte war von Else Lasker-Schüler gewichen. In einer husarenhart verschnürten schwarzen Samtjacke saß sie in königlicher Würde am Vortragspult [natürlich las sie bei Kerzenlicht] und sprach mit großer Feierlichkeit die Gedichte, welche ihren Weltruhm begründet hatten. Sie las nach einer Art Ritus, oft begleitet von Glöckchen und einer Kinderorgel. Mit dem unvergeßlichen Gedicht „Mein Volk“, das anhebt:

Der Fels wird morsch, dem ich entspringe
Und meine Gotteslieder singe

begann die Rezitation. Die dichtgedrängte Hörerschaft folgte gebannt den sprachgewaltigen Visionen dieser echten Enkelin der Psalmisten. Nach einer halben Stunde ließ die Vortragende eine kleine Pause eintreten, und nun ereignete sich etwas, was die Zuhörerschaft auf eine harte Probe stellte. Abermals wurde es dunkel, abermals setzte sich die Dichterin an das Vortragspult und abermals begann sie:

Der Fels wird morsch, dem ich entspringe…

Wir, die wir um ihre grenzenlose Zerstreutheit wußten, standen Höllenqualen aus. Sollte sie vergessen haben, daß sie dieses Gedicht vor einer halben Stunde rezitiert hatte, oder las sie gar noch einmal den ganzen ersten Teil des Programms? Zum Glück fiel es ihr aber doch noch rechtzeitig ein, daß sie mit der Wiederholung des soeben Vorgetragenen begonnen hatte, und so ging sie dazu über, ihre phantastische Schilderung Jerusalems aus dem Hebräerland vorzulesen. Freilich wirkte dieses Traumbild der Stadt hier – mitten in ihrer Alltagsrealität – ein wenig skurril, aber der große Schwung und begeisterte Atem ihrer Dichtung half auch über diese Klippe hinweg.
Kurze Zeit nach dem Vortrag befiel die Dichterin große Unruhe. Die Aufführung ihres Stückes Arthur Aronymus und seine Väter machte ihre Anwesenheit in der Schweiz nötig, und so entschloß sie sich, die Abreise auf den 24. August festzusetzen. Nur ungern sahen wir sie scheiden, hatten wir doch gehofft, daß es möglich sein würde, ihr in Palästina ein dauerndes Heim zu schaffen. Verstimmt war sie auch darüber, daß die Ausstellung ihrer Aquarelle zum Hebräerland nicht den erhofften und verdienten Erfolg gebracht hatte. Überhaupt setzte ein Zustand der Überreiztheit ein, und die wenigen Tage vor der Abreise waren getrübt von einer oft grundlosen Haßentfaltung gegen die wohlgesinntesten Personen, die oft an Verfolgungswahn grenzte. Am meisten litt die Dichterin selbst unter diesem Zustand, ja sie schien fast dem körperlichen Zusammenbruch nahe, doch half ihre unerhörte Energie ihr auch über diese gefahrvolle Krise hinweg…
Unablässig kreisten ihre Gedanken um Gott und Israel. In ihrer unpathetischen Weise konnte sie sagen:

Wenn die Juden sich nicht besser benehmen – sagen Sie selbst! –, erwählt sich Gott vielleicht ein anderes Volk!

Oder:

Wenn wir zusammen graben, stoßen wir vielleicht einmal auf Gott.

Wenn sie dichtete – „meinen Bauplatz“ nannte sie ihr Prosawerk – fühlte sie sich ganz als Gottes Kind. Aber wenn sie, in unproduktiver Einsamkeit, erschauernd das Alter spürte, konnte sie an Gott zweifeln und an seiner Gerechtigkeit verzweifeln.
Sie hatte Visionen, aber sie wußte nicht, von wem sie stammten. Sie war voll der Ahnung des Göttlichen, aber ohne die Gewißheit der Rechtgläubigen, die niemals so tief und leidvoll um die letzten Erkenntnisse gerungen hatten wie diese größte Dichterin, die das jüdische Volk in den zweitausend Jahren seiner Zerstreuung hervorgebracht hat.
Immer wenn ich von meinem Fenster aus die Sonne hinter den Hügeln Judas zur Rüste gehen sehe, ziehen mir die herrlichen Worte Else Lasker-Schülers durch den Sinn, mit welchen ihr Bibelgedicht „Sulamith“ schließt:

Und meine Seele verglüht in den Abendfarben
Jerusalems.

Übergoldet vom Glanz ihrer Verse sehe ich das müde, zerstörte und dennoch hoheitsvoll-schöne Antlitz der Dichterin vor mir, die Peter Hille einst den „schwarzen Schwan Israels“ genannt hatte.

Schalom Ben-Chorin, 1945

Else Lasker-Schüler in der Emigration

Wir kannten sie aus ihren herrlichen Gedichten, Prosa und Drama, die einst eine ganze Zeit begeistert hatten, die Zeit des literarischen Expressionismus. Unter ihren Bewunderern befanden sich so wesensverschiedene Geister wie Karl Kraus, Peter Hille, Max Reinhardt, der Radierer Hermann Struck, Gottfried Benn. Ein weiter Weg führte sie von Elberfeld über Berlins Romanisches Café, das Café Größenwahn, nach Zürich und Jerusalem. Alle Wege führten für sie nach Jerusalem.
Vor etwa acht Jahren sollte ich ihr begegnen. Diese Begegnung war zutiefst erschütternd. In ihr offenbarte sich das dunkle Geschick einer begnadeten Dichterpersönlichkeit, der im Alter der schreckhafte Blick in den Abgrund nicht erspart blieb. Des gehetzten Menschen in der unheimlichen Verlassenheit, dessen allliebende Stimme dennoch tönen mußte für und für. Trunkenem Rausch und gläubigem Gottsuchertum trat erbarmungslos die Wirklichkeit entgegen.
Wir hatten sie zu einem Vorlese-Abend nach Haifa eingeladen. Wir waren sehr gespannt. Sie kam. Saß uns in einem Café gegenüber, angestrengt von der Fahrt. Musterte uns kritisch, mißtrauisch. Bald kamen wir ins Gespräch.
Uns gegenüber saß ein Mensch, der nicht dieser Zeit anzugehören schien. Ein Geschöpf, zierlich, klein, in seltsamem Aufputz. Über schmale Schultern fiel ein dreiviertellanges schwarzes Samtcape, von einer silbernen Sicherheitsnadel zusammengehalten. Auf dem Kopf saß ein kleines Leopardenmützchen. Schwarze lange Locken in wunderlichem Gemisch quollen darunter hervor. In schwarzweiß karierte knielange Tafthosen war Else Lasker-Schüler gekleidet. Von den Ohren baumelten große korallenfarbene Glasohrringe, die später mit giftgrün schillernden vertauscht wurden. Ein übergroßer rechteckiger Glasring leuchtete vom Zeigefinger der edel geformten Hand. Auf schwarzen Schuhen waren kleine Silberglöckchen befestigt.
Wir blickten in ein Gesicht, dessen Alter unerratbar schien. Es war beherrscht von glühenden Augen aus Kohle, von unbeschreiblicher Schönheit. Die Augen waren in ständiger Bewegung, leuchteten verwirrend und überhellten das verwitterte Gesicht mit unfaßbarer Jugend. Wir waren sprachlos. Vor uns saß ein leibhaftiger Kobold, entstiegen einem Märchen. Ein Kobold von unbeschreiblicher Grazie. Ein Kobold, der beim Erzählen – und wie konnte er erzählen! – von einem zum andern sprang, kicherte, ausfallend wurde, begütigend einlenkte, aufstrahlte und erlosch. Verschwenderisch streute Else Lasker-Schüler aus, was ihr Phantasie und skurrile Assoziation eingab, glitt unvermittelt in Trauer und Schmerz, dessen Echtheit fast körperlich weh tat, um flugs bezaubernd in einer Manier zu schauspielern, die Augen zu heben und zu senken, daß eine Duse sie beneidet hätte. Alle Gegensätze waren vereint, bezwingender Zauber und geheimnisvolle Dämonie schlugen entgegen. „Ich bin nämlich Else Lasker-Schüler“, herrschte sie uns an und streckte uns gleich die versöhnende Hand entgegen.
Wir fuhren mit ihr nach Hause. Tief unten streckte sich die Stadt Haifa. Else Lasker-Schüler blieb stehen, nahm das Bild in sich auf: die aufgebaute Stadt, das weite Blau des Mittelmeers, die wehenden Büsche, den sich ihr zu Häupten breitenden Karmel, überflutet vom Licht. Sie streckte den Arm aus, wies auf die Landschaft, nickte. „Heroisch“, sagte sie kurz und zwingend.
Wir betraten die Wohnung. Else Lasker-Schüler zog ihren kleinen Reisekoffer heran und packte aus, was sie an Andenken mit sich führte: einen Schal und ein Seidenjäckchen, die ihr einst Max Reinhardt geschenkt, Erinnerungen von Peter Hille. „Diese beiden Ringe“, sagte sie mit rührender Gebärde, „hat mir Arthur Holitscher aus Indien mitgebracht. Wollen Sie sie haben?“ Sie drückte sie meiner Frau in die Hand. „Damals war ich noch der Malik, Prinz Jussuf und Tino von Bagdad“, klagte sie. „Wer weiß es heute noch?“ Ich widersprach. Sie wehrte ab. „Ich schrieb mein Preis-Gedicht ,Der Tibetreppich‘, und Jürgen Fehling führte mein Stück Die Wupper auf.“ Ich fragte sie nach Peter Hille. „Das war ein Heiliger“, meinte sie ernst. „Kannten Sie Gottfried Benn?“ Ich fragte sie, ob sie wisse, daß Benn sich gleichgeschaltet habe. „Ich habe davon gehört“, erwiderte sie und schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht fassen.“ Ihr Blick war rätselhaft entrückt. „Welche Zeit“, sprach sie still, „meine Zeit ist vergessen, die Menschen sind schlecht geworden und undankbar. Ach, und mein Sohn Paul – –.“ Sie sprach in guten Worten von der Schweiz und daß der Schweizer Konsul ihr Asyl angeboten habe. „Aber ich gehöre nach Jerusalem“, meinte sie energisch und strich sich ihr pechschwarzes Haar zurück. „Haben Sie übrigens die Kerzen zu meinem Vortrag besorgt? Ohne Kerzen lese ich nicht.“ Ich versprach es ihr.
Dann kam der Abend. Der Saal war überfüllt, wurde verdunkelt, vor Else Lasker-Schüler brannten nur zwei Kerzen. Ihre Vorlesung war ein unvergeßliches Erlebnis. Draußen lag die Welt, wütete der Krieg. Hier aber, in einem kleinen Raum, vor einer ergriffenen Hörergemeinde, erhob sich der schöpferische Genius einer Weltliebenden, von Schmerz und Liebe zu singen im Wissen um Sehnsucht und Tragik des Menschengeschlechts, strömte und blutete das Herz einer Liebenden:

Auf einmal mußte ich singen –
Und ich wußte nicht warum?
– Doch abends weinte ich bitterlich.

Es stieg aus allen Dingen
Ein Schmerz, und der ging um –
Und legte sich auf mich.

Mehrere Male kam sie nach Haifa. Immer wurden die Abende zu unvergeßlichen Erlebnissen.
Else Lasker-Schüler hatte in Jerusalem eine Vortragsgemeinschaft „Der Kraal“ gegründet, für den sie sich in rührender Weise einsetzte. Sie lud bekannte Wissenschaftler, Publizisten und Künstler zu Vorträgen ein, ließ aber auch weniger bekannte jüngere Dichter und Dramatiker zu Wort kommen. Stets trug sie selbst die Einladungen zu den Abenden aus. Etwas Indianertreues lag in der Freundschaft, mit der sie sich einsetzte. Sie schrieb kurz vor ihrem Tode einen Gedichtband Mein blaues Klavier, der zum Schönsten und Ergreifendsten der deutschen Lyrik gehört. Eine kleine Auflage wurde in Jerusalem gedruckt. Daneben beendete sie ein tollgespenstisches Stück Ich und Ich, das Hitler und Goebbels in der Hölle auftreten läßt…
Einsamkeit und Krankheit löschten sie aus. Zu Beginn des Jahres 1945 starb sie. Sie ist auf dem Ölberg in Jerusalem begraben. Das jüdische Volk verlor seine größte Sängerin. Die deutsche Literatur die größte Dichterin seit der Droste. Aber ihre Freunde den treuesten Freund, den sie besaßen.

F.S. Großhut, 1950

Im Spiegel der Kamera

Fotografische (Selbst-)Inszenierungen der Dichterin Else Lasker-Schüler. –

Der Gang ins Atelier war spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts für viele Bürger zugleich Ritual und Konvention; das Porträt im Atelier sollte ein Nachbild erhalten, das vor allem repräsentative Zwecke erfüllte. Der Wunsch, auf eben diese Art und Weise gesehen zu werden, lenkte Posen, beeinflusste Kleidung und Körpersprache, wobei auch die traditionellen Codes der Atelierfotografie die Ausstattung und Darstellungsmodi prägten. Auch Künstlerinnen und Künstler wählten das Atelier des Fotografen als wichtigen Ort der Selbst-Darstellung. Porträtfotografien können deshalb Aussagen über Selbst- und Fremdsichten von Künstlern vermitteln – auch von weiblichen Kunstschaffenden. Noch im frühen 20. Jahrhundert galten professionelle Künstlerinnen als Exotinnen, und das Bild der dilettierenden „Malweiber“ dominierte die Rezeption von Malerinnen in der Öffentlichkeit.1 Ein Bild von sich konzipierten Malerinnen wie Paula Modersohn-Becker oder Marianne von Werefkin in ihren Selbstporträts – bei Modersohn-Becker ist es sogar ein zentrales künstlerisches Experimentierfeld.2
Der Blick in den Spiegel, die Sicht auf sich selbst über die Spiegelung, führte zur künstlerischen Interpretation, die zu allererst durch den Ausdruckswillen der Künstlerin geprägt war. Anders beim Fotoporträt, das stets an der Schnittstelle zwischen dem Willen des Modells und der Sichtweise des Fotografen angesiedelt ist.
In Monografien, Katalogen und Ausstellungen zur Dichterin und Künstlerin Else Lasker-Schüler sind stets auch Porträtfotografien enthalten, die als Dokumente und Lebenszeugnisse verwendet werden. Das prominenteste Beispiel ist wohl das fotografische Porträt, das die Dichterin einst ihrem Roman Mein Herz beifügte und das sie in strenger Seitenansicht mit Flöte zeigt. Diese ungewöhnliche Pose nahm Else Lasker-Schüler eigens für die Aufnahme ein. In der Forschung ist für die Fotografie auf den Einfluss altägyptischer Ikonographien verwiesen und die Aufnahme als wichtiger Schritt der Metamorphose in die Kunstfigur Jussuf von Theben gedeutet worden.3 Dieses Porträt erschien Lasker-Schüler derart programmatisch, dass sie es 13 Jahre später zur Weiterverwertung freigab: Ein Berliner Künstler schuf nach der Aufnahme eine Zeichnung, die 1925 auf dem Titel von Else Lasker-Schülers Schrift „Ich räume auf “ reproduziert wurde.4
Für Else Lasker-Schüler waren ihre Porträtfotografien und deren künstlerische Aneignungen sichtlich ein wichtiges Ausdrucksmittel, das sie in unmittelbare Nähe zu ihren literarischen Werken positionierte. Die folgenden Ausführungen bilden den Versuch, Porträtaufnahmen Else Lasker-Schülers in Zusammenhang mit der Rezeption der Schriftstellerin zu lesen und damit existierende Zuschreibungen zu hinterfragen.

Beim Fotografen – Konventionen, Traditionen, Brüche
Seit der Geburt der Fotografie im Jahr 1839 wurden weltweit Ateliers begründet, die vor allem kommerziell tätig waren. Auch in ganz Deutschland eröffneten vielerorts Porträtateliers. Mit wachsendem Selbstbewusstsein entwickelten sich im Bürgertum die Bedürfnisse nach Verewigung im Bildnis. Damit adaptierte man eine bildnerische Praxis aus der Malerei, die lange Zeit dem Adel vorbehalten war.5 Dabei fand auch das bürgerliche Repräsentationsbedürfnis Eingang in die Komposition des Porträts: In der klassischen Studiofotografie des 19. Jahrhunderts waren Kulissen, Mobiliar und Requisiten ein unerlässlicher Bestandteil der Inszenierung. Die fotografierte Person wurde in ein theatrales Dekor eingebettet, das weniger auf das Individuum abgestimmt war, sondern starre Repräsentationsschemata wiederholte.6
Erst Ende des 19. Jahrhunderts begann die Reformierung der Porträtfotografie. Die Entschlackung der Porträtkunst vom Ballast der Ausstattung war das wesentliche Merkmal der gehobenen Fotografie. Die Kunstphotographie mit ihren Edeldruckverfahren und den an der Malerei angelehnten Gcstaltungsparametern erneuerte die Bildnisfotografie. Neben dem Münchner Atelier Elvira und dem Berliner Studio von Nicola Perscheid können auch der Hamburger Rudolph Dührkoop und seine Tochter Minya als wichtige Exponenten des kunstphotographischen Porträts nach 1900 genannt werden. In der Weimarer Republik ist grundsätzlich eine deutliche Vielfalt der Ausdrucksmittel in der Porträtfotografie zu beobachten:7 Neben der noch immer aktuellen Kunstphotographie mit ihren weichen Bromöldrucken existieren sachlichere Perspektiven: Unter- und Aufsichten, Anschnitte, Rückenansichten und dynamische Linien im Bild kennzeichnen viele ambitionierte Studiofotografien. Mitunter kam es auch zu hybriden Ausdrucksformen wie beim Berliner Atelier Riess, das auf weichzeichnende Effekte nicht verzichtete, jedoch mutig in der Komposition war. Überlieferte Porträtfotografien vermitteln dabei ein breites Repertoire an Gesten und Körperhaltungen, an Settings und Lichtsetzungen, an Modell-Raum-Relationen.8 Andererseits erhielten sich repräsentative Codes wie die tradierte, weit in die Geschichte der Fotografie – und der Malerei – zurückweisende Haltung des Intellektuellen mit der Hand am Kopf, die das Sinnieren ebenso wie die künstlerische Produktivität der Melancholie ausdrücken kann. Auch Else Lasker-Schüler hat um 1919 für eine Porträtaufnahme diese klassische Körperhaltung und Gestik der porträtierten Intellektuellen eingenommen.9 Gesichtsausdruck und Blick sind ganz dieser Ikonographie entsprechend ernst – ähnlich wie bei motivisch verwandten Aufnahmen der Künstlerin Käthe Kollwitz (1917) von Hugo Erfurth oder dem Schriftsteller Max Hermann-Neiße (1922) aus dem Atelier Riess wird ein dialogischer Blickwechsel gesucht, wobei eine Distanz zwischen Modell und Fotografen bleibt.

Fotografische (Selbst-)Inszenierungen Else Lasker-Schülers
1952 erinnerte sich der Schriftsteller Gottfried Benn in einer „Rede auf Else Lasker-Schüler“ an die Zeit ihres Kennenlernens vierzig Jahre zuvor:

Sie war klein, damals knabenhaft schlank, hatte pechschwarze Haare, kurz geschnitten, was zu der Zeit noch selten war, große rabenschwarze Augen mit einem unausweichenden unerklärlichen Blick. Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne dass alle Welt Stillstand und ihr nachsah: extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem unechtem Schmuck, Ketten, Ohrringen, Talmiringen an den Fingern.10

Benns exotisierende und stereotypisierende Beschreibung lässt sich angesichts der überlieferten Fotografien nur in Teilen bestätigen. Zwar artikuliert die eingangs erwähnte Fotografie der Künstlerin als Flötenspielende durchaus exzentrisches Potential, doch ist Lasker-Schüler hier nicht in einer Alltagssituation festgehalten, sondern in einer künstlerischen Verwandlung. Dieser Hang zur Transformation des Ichs in andere Figuren war ganz wesentlich für ihre künstlerische Produktion. In ihren Briefen und Postkarten, die die Dichterin an Mitglieder des Blauen Reiters adressierte, formulierte sie sowohl textlich als auch bildlich ein phantasievolles Ich, erfand bekanntermaßen phantastische Namen und Figuren wie Josef oder Jussuf, Prinz von Theben. Ein Brief an Marianne von Werefkin aus dem Jahr 1913, in dem sich Lasker-Schüler sowohl als Prinz von Theben als auch als „Des blauen Reiterreiterinfreundin“ bezeichnete, ist von einer Vignette begleitet, die das Profil der Schriftstellerin mit Phantasiehut, Stern und Mond im Gesicht zeigt.11 Das Rollenspiel ist für Else Lasker-Schüler eine künstlerische Verfahrensweise, und das Porträt als Flötenspielende, das sie in ihrem Buch Mein Herz publizierte, ist ebenso diesen künstlerischen Metamorphosen zuzuordnen. Denn es entstand anlässlich des geplanten Varieteprojekts „Der Fakir“ 1910 und wurde vom Atelier Becker & Maaß aufgenommen und in einer Stückzahl von 100 verbreitet. Es ist demzufolge eine inszenierte, von einem professionellen Fotografen erstellte Aufnahme, die Lasker-Schüler in einem Knaben- und Bühnenkostüm zeigt, in dem sie ihren Abend hätte gestalten wollen. In der jüngeren Forschung wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei der Fotografie um kein alltägliches Selbstporträt der Dichterin handelte, sondern um eine inszenierte Auftragsarbeit.12 Die Deutung der Fotografie, sie sei für private Zwecke entstanden, führte zu der Behauptung, die Dichterin habe sich so in ihrem Privatleben inszeniert.
Um noch einmal auf Benns Beschreibung von Else Lasker-Schüler als Exzentrikerin zurückzukommen: Die meisten von Lasker-Schüler erhaltenen Fotografien sprechen eine andere Sprache und sind vermutlich Ausdruck einer selbstbestimmten Konstruktion als Schriftstellerin. Die Ernsthaftigkeit, mit der Else Lasker-Schüler für das Elberfelder Atelier Bender posierte, unterstreicht ihr Selbstverständnis als Dichterin. In der ihr gewidmeten Ausgabe der Heidelberger Zeitschrift Saturn des Jahres 1913 wurden Gedichte, Geschichten und Essays Lasker-Schülers publiziert, darunter auch ein gezeichnetes Selbstbildnis der Dichterin als Prinz von Theben. Es ist eine Variante jenes Profilbildnisses mit Hut, das bereits im Brief Lasker-Schülers an Werefkin begegnete. In der Fotografie blickt Lasker-Schüler nach rechts, die Augenbrauen sind zusammengezogen, mit ernstem, fast zornigem Blick fixiert sie etwas außer des Bildraum liegendes. Die Lippen sind aufeinandergepresst, der strenge Pagenkopf ist für das Jahr 1913 tatsächlich sehr ungewöhnlich (darauf hatte schon Benn in seiner Rede verwiesen). Erst mit Asta Nielsens Pagenfrisur in ihrem weltweit rezipierten Film Hamlet von 1920 wurde der Bubikopf zur Mode. Dass Else Lasker-Schüler sich bereits in den zehner Jahren die Haare abschnitt, als das wilhelminische Schönheitsideal noch eine voluminöse Hochsteckfrisur propagierte, ist erstaunlich. In zeitgenössischen Besprechungen von Lesungen Else Lasker-Schülers wird immer wieder der Kurzhaarschnitt exponiert:

Und endlich kommt sie herein. In einem Kleid, das des Himmels Blau trägt und zeitlos ist. Wie ein trotziger Knabe steht sie oben. Nur den Kopf sieht man und den schlanken Hals. Die kurzen braunen Locken der Pagenfrisur rahmen ein merkwürdig interessantes Gesicht ein.13

In dieser Beschreibung der Zuschauerin und Zeitzeugin Marie Holzer wird auch auf Lasker-Schülers Kleidung verwiesen, die in der Aufnahme von Bender ebenfalls auffällt.
1913 war das Korsett noch verbreitet, die Taille wurde betont. Else Lasker Schüler hingegen trägt ein Kleid mit geschlitzten Ärmeln, die an das 16. Jahrhundert erinnern, das Oberteil ist voluminös und konturiert nicht den Körper. Vermutlich handelt es sich um ein Künstlerkleid – dies war keine Seltenheit in den Kreisen, in denen Lasker-Schüler verkehrte. Fotografien zeigen beispielsweise die Malerin Gabriele Münter 1905 in einem selbstentworfenen Kleid, sodass davon ausgegangen werden kann, dass das Tragen von Künstlerkleidern in den Zirkeln um den Blauen Reiter verbreitet war.14 Auch in der avancierten Haute Couture, so in einem Entwurf von Mariano Fortuny von 1910,15finden sich Parallelen zu Else Lasker-Schülers Kleidung.
Die im Saturn publizierte Fotografie verdeutlicht in ihrer sorgfältigen Komposition und der Stilisierung der Dichterin, dass Prominentenfotografien weitaus stärker die spezifische, unverwechselbare Persönlichkeit betonten. Diese Fotografien, die mediale Verbreitung fanden, waren Projektionsflächen für die Leserschaft und waren zumeist sorgfältig komponiert und inszeniert;16 das Vokabular der Gesten und Posen durchdacht und auf spezifische Aussagen – Empfindsamkeit, Vergeistigung, Empathie, Expressivität – entwickelt. Dabei mochte der Beruf der Prominenten – Schauspieler oder Tänzer, Dichter oder Maler – sicherlich den Charakter der Fotografie prägen.
Die Ernsthaftigkeit, mit der sich Else Lasker-Schüler 1913 präsentierte, begegnet auch in anderen Fotografien der Dichterin. 1906 posierte sie im Atelier der Berliner Fotografen Becker & Maaß, die bekannt für Mode- und Gesellschaftsfotografien waren. Der Körper ist in Dreiviertelansicht zu sehen, der wieder ernste Blick auf den Betrachter gerichtet. Optischer Blickfang ist die große karierte Schleife oder Schluppe und der weiße Kragen – Else Lasker-Schüler ist ganz entsprechend der aktuellen Mode gekleidet. Seit der Jahrhundertwende hatte sich die Bluse zu einem wichtigen Bestandteil der Garderobe etabliert, ebenso wie der Gürtel – beide bildeten Ergänzungen zum Kostüm, einer Jacke-Rock-Kombination, wie sie auch die Schriftstellerin trägt.17 Die Gestik ist zurückhaltend, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Die zum Dutt im Nacken gebundenen Haare rahmen das Gesicht ein. Insgesamt wirkt die Fotografie sehr reduziert, was dem Kleidungsstil, Pose und Mimik der Schriftstellerin entspricht, die fast misstrauisch und zurückhaltend wirkt. Wie wichtig das fotografierte Modell für die Bildlösung und Komposition war, zeigt ein Vergleich mit einer Aufnahme von Anna Muthesius, die 1905, also nur ein Jahr zuvor, ebenfalls von Becker & Maaß gefertigt wurde. Die Innenarchitektin und Entwerferin von Reformkleidung posiert in der Außenaufnahme in verspieltem, bodenlangem Sommerkleid, Muthesius blickt verträumt in die Ferne, was das Mädchenhafte ihres Auftretens noch betont. Die fast gleichalte Else Lasker-Schüler und Anna Muthesius (beide sind etwa Mitte 30 als die Fotografien entstanden) wurden von den Fotografen Becker & Maaß anders gesehen und gaben sich auch sehr unterschiedlich vor der Kamera – wo Else Lasker-Schüler den direkten Blickkontakt suchte, entzog sich Muthesius, war statt Beobachterin nur Beobachtete.
Der Kunsthistoriker John Berger formulierte in seinem Buch Sehen die These, dass die Sichtweise auf die Frau in der westlichen Kunstgeschichte stets männlich geprägt war:

Die Frau wird in einen zugeteilten und beschränkten Raum hineingeboren, in die Obhut des Mannes. Das gesellschaftliche Auftreten der Frau, ihre Stellung in der Gesellschaft, konnte sich demzufolge nur entwickeln als Ergebnis ihrer Lebenstüchtigkeit, die sie unter der männlichen Bevormundung innerhalb des begrenzten Raumes erworben hat.18

In Bezug auf die Fotografie ließe sich postulieren, dass Settings, Gesten und Blicke durch männlich geprägte Vorstellungen des Weiblichen modelliert waren. Viele Studiofotografien aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert bestätigen dies, da sie Frauen als verspielte, in ihren voluminösen Kleidern und bürgerlichen Interieurs gefangene Wesen verbildlichten.19 Else Lasker-Schüler scheint diesem geschlechtsspezifischen, determinierenden Sehen ein eigenes Blicken entgegen zu setzen und damit auch die tradierten Blickregime – auf der einen Seite die Kameraperspektive auf das Objekt, auf der anderen Seite das betrachtete Modell – zu unterlaufen.
Else Lasker-Schülers Fotografie ist mit einer Widmung an René Schickele versehen – „Ich liebe dich“, schreibt Lasker-Schüler. Ebenfalls Schickele gewidmet ist eine weitere Fotografie aus demselben Jahr, deren Urheber jedoch nicht bekannt ist. Hier blickt Else Lasker-Schüler mit ähnlich misstrauischem Blick in die Kamera, hat sich jedoch fast frontal und bildfüllend aufgebaut. Der kleine Persianerhut verleiht der Aufnahme eine besonders modische Nuance, ähnlich wie der Glasperlenkette und die Ohrringe. Auch hier wird deutlich, wie viel Wert Else Lasker-Schüler ihrer Kleidung beimaß. Beim selben Fototermin entstand vermutlich eine weitere Aufnahme, für die Lasker-Schüler ihren Hut und die Kette ablegte und die Ohrringe austauschte; zumindest Bluse, Jacke und Brosche sind identisch, was für eine zeitliche Nähe beider Aufnahmen spricht.20 Dass die Künstlerin Schmuck und Kopfschmuck veränderte, wäre ein Hinweis dafür, dass sie sich sehr bewusst für die Kamera inszenierte.
Ihre Fotografien verwendete Lasker-Schüler für ihre Veröffentlichungen. Dies gilt nicht nur für Mein Herz, sondern auch für einige Aufnahmen aus dem Jahr 1909, von denen eine im Werbeprospekt des Vereins für Kunst für Else Lasker-Schülers Vorlesungsprogramm Verwendung fand. Der Fotograf fasste die strenge Erscheinung der Künstlerin mit ihren glatten, zum Dutt gebundenen Haaren, dem hochgeschlossenen weißen Kragen und dem schwarzen Kleid in einer streng komponierten Fotografie vor einfarbigem Hintergrund. Nichts lenkt von der Gestalt ab. Derartige Aufnahmen unterlaufen die Zuschreibungen, denen Else Lasker-Schüler in der Rezeption ihrer Person unterworfen war. In vielen, auch aktuelleren Publikationen zu Else Lasker-Schüler werden ihr Exotismus und der Hang zu extrovertierter Kleidung betont: „Mit ihrer exotischen Verkleidung exponierte sie sich, erregte Aufmerksamkeit und, mehr noch, Aufsehen“,21 heißt es beispielsweise in dem 1997 erschienenen Band Deine Sehnsucht war die Schlange. In einem anderen, 2009 erschienenen Buch über „Malweiber“ ist über Lasker-Schüler zu lesen:

Mit ihren pechschwarzen und, was zu der Zeit noch selten war, kurz geschnittenen Haaren, ihren Pluderhosen, Hals und Arme behängt mit Glasperlenschmuck und Glöckchen an den Füßen, ein anderes Mal mit Federbusch oder Turban auf dem Kopf und um den Körper eine drapierte Schärpe, war sie stets eine extravagante Erscheinung.22

Diese Zuschreibungen sind vermutlich von der Fotografie und Zeichnung als Flötenspielerin inspiriert, rekurrieren zugleich auf die vielen gezeichneten Selbstporträts der Künstlerin als Jussuf. Lasker-Schülers gezeichneten Verwandlungen und Rollenspiele werden dabei auf die Autorin und ihr Erscheinungsbild übertragen. Dabei kann hier kaum das Gegenteil behauptet und postuliert werden, Else Lasker-Schüler habe sich nicht verkleidet und als Phantasiewesen in der Öffentlichkeit gezeigt. Festzuhalten ist jedoch, dass ihre fotografischen Porträts ein anderes Bild zeigen, sei es, dass Else Lasker-Schüler in der Fotografie die Möglichkeit erkannte, ein anderes, sachliches Image von sich zu erzeugen oder dass sie in Interaktion mit den Fotografen zu anderen Selbstsichten fand.

Lasker-Schüler im Foto: Aneignungen und Interpretationen
Welche Aussagen konnten Künstlerinnen über sich und ihre Werke treffen, indem sie sich fotografieren ließen? Welche Unterschiede zwischen privaten und Atelierfotografien lassen sich beobachten? Wie nutzte speziell Else Lasker-Schüler die Pose vor der Kamera für sich? Diese drei Fragen lassen sich auch nach der Auseinandersetzung mit den erhaltenen Porträtfotografien der Dichterin nicht endgültig beantworten, sondern als zu diskutierende Thesen formulieren: Else Lasker-Schüler, die in ihrer späteren Rezeption als exotische, bis ins Groteske gewandete, sich manieriert und außergewöhnlich verhaltende Künstlerin beschrieben wird, hinterließ mit Ausnahme ihres Porträts als Flötenspielerin größtenteils wohl komponierte und durchdachte fotografische Bildnisse, die sie als ernste und ernsthafte, fordernde und herausfordernde Künstlerin erscheinen lassen. Meist frontal in die Kamera blickend oder im strengen Profil aufgenommen, brachte sich Lasker-Schüler selbstbewusst ins Bild. Ihre Kleidung ist modisch, aber nicht exotisch, ihr Ausdruck ernst und kritisch, aber kaum extrovertiert. Zwischen den privaten Aufnahmen und den Atelierfotografien existieren nur wenige Unterschiede, die vor allem die Qualität der Fotografien betreffen. Vermutlich gab die Fotografie Else Lasker-Schüler Gelegenheit, ein Bild von sich als Schriftstellerin jenseits ihrer künstlerischen Rollen zu finden oder gar zu erfinden. Dieser Beitrag folgt nicht der Frage, welches die „wahre“ Else Lasker-Schüler war – exaltiert oder ernst, exotisch oder europäisch. Vielmehr geht es um die Möglichkeiten des Mediums Fotografie zur strategischen Selbstdarstellung. Da Else Lasker-Schüler sich 1895, als sie erstmals ein eigenes Atelier im Berliner Tiergartenviertel bezog, wohl selbst mit Fotografie beschäftigte,23 kann ihr ein Interesse am Medium und eine gewisse Vertrautheit zugesprochen werden.
Bereits als reife Dichterin, in den 1920er Jahren, wurde Else Lasker-Schüler in der klassischen Pose der Touristin fotografiert – beim Taubenfüttern auf dem Markusplatz.24 Eine ganz ähnliche Aufnahme ist zeitnah von der französischen Regisseurin Germaine Dulac erhalten, fast an derselben Stelle fotografiert. Beide Fotografien sind vermutlich von einem Straßenfotografen und für private Zwecke gefertigt worden. Für die öffentliche Verwendung hingegen war sicherlich eine Aufnahme von 1932 bestimmt, die die über 60-jährige Schriftstellerin im Porträt zeigte und vielleicht im Kontext ihrer Veröffentlichung Arthur Aronymus 1932 im Rowohlt-Verlag entstand. Else Lasker-Schüler ist nahsichtig als Brustfigur aufgenommen, ihre Arme sind von den Bildseiten beschnitten. Das Porträt ist wohlkomponiert und auf helles Weiß, Schwarz und wenige Graunuancen reduziert. Der Lichteinfall erhellt die linke Gesichtshälfte, während die rechte verschattet ist. Auf der hellen Gesichtshaut zeichnen sich die langen dunklen Augenbrauen scharf ab, der Blick fixiert den Betrachter. Schwarze Perlenkette und schwarzer Turban – eine modische Kopfbedeckung der frühen 1930er Jahre und nicht als Orientreferenz zu lesen – beziehen sich aufeinander. Der Bildraum und Hintergrund bleiben diffus. Der Akzent der Bildkomposition ist gänzlich auf die ausdrucksvollen Augen der Dichterin gelegt. Vergleiche mit anderen Prominentenfotografien der Zeit um 1930 zeigen, dass die Bildfindung nicht ungewöhnlich war – enger Bildausschnitt, Frontalität und Blickkontakt begegnen etwa auch im Porträt der Tänzerin Valeska Gert von Lotte Jacobi aus der Zeit um 1930.25 Dennoch führt ein weiterer Vergleich etwa mit einer Porträtaufnahme der mädchenhaft lächelnden Vicky Baums von Yva26 vor Augen, dass die Persönlichkeit der Porträtierten ganz wesentlich die Fotografie mitbestimmte.
Dass die Fotografie von Lasker-Schüler vermutlich zur Verwendung in den Medien produziert wurde und damit in den Umlauf einer öffentlichen Verwertung geriet, lässt sich daran erkennen, dass sie 1932 für eine demagogische Hetzschrift adaptiert und missbraucht wurde: Als Teil einer Photomontage diente das Porträt Lasker-Schülers – rechts unten auf der Seite – als Beweisführung für eine angeblich von Juden dominierte Kultur – neben Else Lasker-Schüler finden sich der Maler Max Liebermann und der Galerist Alfred Flechtheim im Bild. Else Lasker-Schüler war kurz zuvor der Kleist-Preis zugesprochen worden, und die politische Rechte reagierte prompt mir einer hetzerischen Berichterstattung im Völkischen Beobachter und dem Illustrierten Beobachter, einer Wochenschrift der NSDAP, in dem diese Montage publiziert wurde. Sie zeigt nachdrücklich, dass Porträtfotografien, die eine Symbiose von Selbstvorstellungen des Porträtierten und Projektionen der Fotografen sind, ein Nachleben haben, innerhalb dessen sie gedeutet, neu- und rekontextualisiert und mit anderen Inhalten aufgeladen werden. Dies wird veranschaulicht an dieser politischen Verwertung der Lasker-Schüler-Fotografie von 1932, aber auch an anderen Aneignungen, die künstlerisch sein können, beispielsweise eine Kohlezeichnung Otto Pankoks,27 die dieser wahrscheinlich basierend auf dem Lasker-Schüler-Foto von 1913 im Saturn, in den 1920er Jahren Für die Zeitung Der Mittag anfertigte.

Burcu Dogramaci, aus Der blaue Reiter ist gefallen. Else Lasker-Schüler-Jubiläumsalmanach. Herausgegeben von Hajo Jahn, Peter Hammer Verlag, 2015

Else Lasker-Schülers letzte Lebenszeit in Jerusalem

Zuerst begegnete ich ihr in dem langen, dämmrigen Korridor unseres Hauses. Als ich ihr den Friedensgruß bot, fragte sie:

Sprechen Sie vielleicht gerne über Literatur? Ich hasse Frauen, die über Literatur reden.

Ich verneinte lachend ihre Frage, und wir kamen einander nahe. Lange Winterabende verbrachte ich in ihrem Jerusalemer Zimmer – in dem ärmlichen, reichen Zimmer. Da war das kleine Tischchen und darauf die kleine Dochtmaschine, auf der sie ihre kargen Mahlzeiten zu bereiten pflegte, und daneben die Schreibmaschine, auf der sie wieder und wieder ihre Gedichte schrieb. Ein Glas noch – und darin Blumen – waren auf dem Tisch, Wasserfarben und allerlei Spielsachen. In einer Zimmerecke Waschgerät, eine Leine und darauf Wäsche. An der Wand der Spielzeugkasten – ihre Puppen, ihrer Hände Arbeit, und sie liebte sie sehr. In diesen Puppen gestaltete sie die Helden eines der Kinderspiele, die sie gedichtet. Und vielfältig waren die Spielsachen in dem Kasten und in musterhafter Ordnung. Stunden konnte sie davor stehen, sie ordnen, ihnen lustige Melodien summend und die Geschichte eines jeden der Spielzeuge erzählend. – In einer anderen Zimmerecke wieder: geschlossene Koffer. In ihnen ihre Schätze, ihre Werke… Kein Bett war in dem Zimmer; ein Liegestuhl nur, über den eine bunte Decke gebreitet; und ein Püppchen, ein kleiner schwarzer Kobold, nistete darin. „Dies ist mein Talisman“, sagte sie darauf deutend, „mein treuer Begleiter durch viele Jahre.“ An einer zweiten Wand – feierlich – ein breiter Leinenstuhl, davor ein kleiner Teppich. Dies war der Platz, dem König David bestimmt. „Auch in Berlin pflegte er zu mir zu kommen“ [ihre glänzenden Augen auf den Stuhl richtend]. „Dort war er groß, überlebensgroß! Die Decke hob sich, wenn er eintrat… Aber hier – irgendwie ist er hier kleiner von Gestalt – es ist, als wenn er menschlicher, näher wäre.“ Und ihre herrlichen Augen leuchteten. Viel erzählte sie über ihre Gespräche mit David, dem König, den sie liebte.
Ihren Tag pflegte sie mit den Tauben zu beginnen, die unter ihrem Fenster ihren Schlag hatten. Jede Taube war von ihr mit einem Namen benannt, und sie fütterte sie mit Brosamen von Biskuit und Schokolade. Jenseits der Türe hörte man ihre Gespräche mit den Tauben:

Du brauner Vielfraß, friß doch nicht so viel, meine Gage reicht nicht für mehr, das ist alles, was ich habe.

Wenn sie dann die Türe öffnete, kam ein Guten Morgen, das den dunklen Gang mit Licht und Wärme füllte. Sie bat um ein Glas gekochtes Wasser mit Entschuldigung und Dank und verschwand. Morgens sprach sie nur wenig zu den Mitbewohnern, hingegen unterhielt sie sich gerne mit den Blumen im Hofe. Und einmal, als die ersten Berichte über die finsteren Untaten Hitlers kamen, erhob sie, auf der Treppe stehend, ihre Augen: „Daß jetzt noch die Blumen blühen!!“ und stieg beschwerten Schrittes hinunter zur Straße. – Einmal fand ich sie, einer Ameise den Weg freigebend, mit liebevollem Ernst, wie zu einem Mitgeschöpf: „bitte“… An einem Morgen gingen wir zusammen auf die Gasse. Plötzlich verschwand sie, kam wieder mit einem Päckchen, das mit einem rosa Bändchen verschnürt war, näherte sich dem Bettler, der in der Ecke stand und überreichte ihm das Päckchen, wie man eine Blume überreicht – „bitte“. Einen Augenblick zögerte der Bettler, dann öffnete er vorsichtig das Päckchen, und ein leises, gütiges Lächeln breitete sich über sein Gesicht, als er behutsam den Kuchen an den Mund führte. Sie kam zu mir zurück: „In Jerusalem sollten keine Bettler sein“, und mit dem ihren Augen eigenen Seherblick fing sie an, vor mir das Bild ihres Jeruschalajim“ aufzurollen. – Wieder an einem Tage hörte ich ein Weinen aus ihrem Zimmer, und als ich eintrat, erzählte sie mir tränenschwer:

Dieser Schuhputzer an der Ecke, dessen Kind, das immer mit ihm war, ich oft Bonbons gab, war heute allein und so traurig. Ich fragte und erfuhr: das Kind ist tot – Typhus…

Und dann sprach sie mir von ihrem einzigen Sohn. Sie sprach über das Bohèmeleben, das er führte, sprach von sich selbst, wie sie nicht verstanden hatte, Mutter zu sein und ihn zu behüten, erzählte von seinem Sterben und weinte bitterlich.
Einmal geschah es, daß ein Freund von ihr, ein arbeitsloser Klavierkünstler, für den sie in Jerusalem ein Konzert arrangiert hatte, durch ein Auto verletzt wurde. Sie brachte ihn in ihr Zimmer, bettete ihn auf ihren Liegestuhl und schlief selbst auf dem Fußboden. Es waren gerade die schweren Winternächte in Jerusalem, und sie besaß keinen Ofen. All meine Bitten, sie möchte doch in meinem Zimmer schlafen, halfen nichts.

Es schläft sich gut am Boden, wenn man sein Bett einem Menschen gibt.

Sie pflegte den kranken Freund Tag und Nacht, und erst als nach einigen Tagen der Zustand sich besserte, brachte sie ihn zu Freunden nach Tel Aviv.
Einmal trat ich in ihr Zimmer und erkannte ihren Tisch nicht – er atmete Feiertag: eine weiße Decke, Blumen, Süßigkeiten. In schwarzen Samt gekleidet, erwartete sie einen Gast. Es war dies ein junger, hungernder Dichter, den sie zum Abendessen eingeladen hatte. Hilfe annehmen wollte sie von keinem. Das einzige, was sie gerne von Freunden annahm, war Spielzeug.
Tagsüber arbeitete sie viel. Nachts ging es nicht, denn ihre Sehkraft war geschwächt. In den Nächten, da Jerusalem verdunkelt war, war ihr Fenster das einzige, aus dem Licht strahlte. Und wenn Aufseher kamen, sie auf das Ungehörige aufmerksam zu machen, lud sie sie ein und bewirtete sie, indem sie ihnen ihre Gedichte in englischer Übersetzung vorlas. Einmal geschah es, daß einer dieser Leute, ein junger englischer Soldat, an meine Türe klopfte und voller Begeisterung sagte:

Es wohnt hier mit Euch eine große Dichterin, Ihr müßt lieb zu ihr sein und auf sie achten!

Vieles erzählte sie mir über ihre Dichterkameraden, Freunde, mit denen sie verbunden war bis zu ihrer letzten Stunde. Über ihr Liebesleben sprach sie, in dem Licht und Schatten verwoben waren, über ihren Vater, der ihren Geist verstand, als sie noch ein wildes, ungebändigtes Kind war, über ihre wilden Eskapaden, die sie gemeinsam in ihrem Städtchen ausführten, über die Mutter und die Schwestern und über ihre phantastischen Romane.
Sie hatte ihre eigensten, vielfachen Feiertage, Gedenktage an Menschen, die ihr teuer und die nicht mehr waren. Dann schmückte sie ihre Bilder mit Blumen und Lichtern. Als die Nachricht von Stefan Zweigs Selbstmord eintraf, war sie tagelang aufgewühlt und traurig. Murrend ging sie herum:

Nur einen Augenblick… einen Augenblick nur noch… im nächsten hätte er es ja nicht mehr getan!

Immer, immer war sie in jemanden verliebt, erwartete ihn, sehnte sich nach ihm, schmückte sich für ihn, schmückte das Zimmer zu seinem Empfang, war eifersüchtig und haßte die Frauen, die sie verdächtigte, daß sie sich ihr in den Weg stellten. Sie schrieb ihm Liebeslieder und durchlebte all die Empfindungen einer Achtzehnjährigen. Als ich sie einst in einem dieser Zustände sah, fragte ich:

Wie alt sind Sie eigentlich?

Worauf sie mit großem Ernst erwiderte:

Achtzehn- und zweitausend!

Einmal besuchte uns der Dichter Kariw, und ich ersuchte sie, ihm ihre Gedichte vorzulesen. Sie stimmte zu. Sie erschien bei uns in Samt und Seide, ihr Haar frisiert, und Ohrringe – die Holzringe, die sie in Bethlehem gekauft und hellblau gefärbt hatte, als sie liebte – schmückten ihre Ohren. Ihren Hals umwand eine braunfarbige Glasperlenkette. und die Augen strahlten in ihrem edlen Gesicht. Sie setzte sich und bat, wir möchten entfernt von ihr uns auf dem Teppich niederlassen. Leise las sie mit ihrer tiefen, bewegten Stimme und war wie eingehüllt in ihr Lied. Ihr Fuß, den sie etwas über den Fußboden erhöht hielt, blieb unbewegt bis zum Ende der Vorlesung – drei Stunden lang. Sie glich einer schwingenden Saite, erzitternd in Heiligkeit, Weh und Glück! Und erst als sie aufhörte zu lesen, setzte sie den Fuß nieder, und ihre Augen kehrten aus Weltenfernen zurück. Als ich ihr am nächsten Tage sagte, daß Kariw ihre Gedichte ins Hebräische zu übersetzen wünsche, sagte sie staunend: „Aber sie sind doch hebräisch geschrieben!“ und verbot eine Übersetzung.
War sonniges Wetter, so lachte sie und war voll Humor. Wintertage stimmten sie traurig und weckten ihre Sehnsucht nach Heimat und Freunden. Als ich sie das letzte Mal in Jerusalem besuchte, fand ich sie krank. Fieberglühend lag sie im Lehnstuhl – ihrem Bett… Das Zimmer sah verlassen aus, die Blumen welk, das Geschirr war ungewaschen. Es war schon um die Mittagsstunde, und sie hatte noch nichts gegessen. Ihr Herz war verbittert und sie sagte:

Dieses Jerusalem, um dessentwillen ich als Kind schon mich mit meinen Freundinnen überwarf und um das ich aus der Schule gejagt wurde, diese Stadt, die ich so besungen habe – ein Heim habe ich nicht in ihr…

Nach Kriegsende wollte sie in die Schweiz – ins Tessin –, dort wußte sie ihre Freunde und wußte gläubigen Herzens, daß sie erwartet wurde. Im Tessin sollte das Leben neu anfangen, und es sollte ein interessantes Leben werden. Sanft legte sie ihre Hand auf die meine: „Dich werde ich mitnehmen ins Tessin“, und ihre Augen erstrahlten in Jugendlichkeit. Sie streifte ihren Ring ab und gab ihn mir. Es war ein Blechring mit einem farbigen Glasstückchen darin. Ich wußte, was dieser Ring für sie bedeutete und sagte ihr:

An Ihrem Finger ist das doch ein Edelstein, und an meinem Finger wird es ein Glassplitter – schade!

Sie lachte und küßte mich…
Ich habe ihre Augen nicht mehr lebend gesehen. – Ich kam zu ihrem Begräbnis. Sie lag einsam, schön und ruhig im Angesicht der Berge von Jerusalem. Nur der junge Dichter, den sie liebte, saß an ihrer Seite.
Sie wurde zu Grabe getragen auf den Schultern derer, die mit ihren Liedern herangewachsen waren – und wie sonst Psalmen, wurden auf ihrem letzten Wege Verse aus ihren Gedichten gesagt. So fand die große Dichterin ihre letzte Ruhe in ihrem Jeruschalajim.

Rachel Katinka, 1950

Ein Brief aus Jerusalem vom 23. Januar 1945

… heute früh um 10 haben wir unsere Tino begraben. Ich hatte keine Möglichkeit, Sie noch rechtzeitig zu verständigen. Auch Ihren wunderschönen Brief konnte ich ihr nicht mehr geben, da sie seit Tagen ohne Bewußtsein war.
Man hatte sie am 16. abends um 11 in die Hadassa eingeliefert, nachdem sie einen sehr schweren Herzanfall erlitten hatte. Ich erfuhr erst am 17. spät nachmittags, daß sie so plötzlich erkrankte. Vom 18. ab war ich täglich Vor- und Nachmittag mehrere Stunden bei ihr. Die letzten beiden Nächte und Tage habe ich sie dann nur noch vier Stunden allein gelassen; ich brachte es nicht mehr übers Herz, von ihr wegzugehen.
Sie hat entsetzlich gelitten. Das Herz wollte nicht nachgeben. Trotz starker Morphiumdosen erfolgten die Anfälle in Abständen von zehn Minuten. Erst am Montag gegen 5 Uhr morgens wurde die Atmung ruhiger. Die letzte M-Spritze brachte ihr dann die ersehnte Erleichterung. Um 7 Uhr 25 morgens hauchte sie buchstäblich ihr Leben aus, sehr leise, ohne Kampf und in großer Ruhe. Die beiden letzten Nächte waren nur ihr Freund Andreas Meyer und ich bei ihr. Als sie starb, war ich als einziger bei ihr. K. hatte vorher die ganzen Tage bei ihr zugebracht und ihr, soweit es möglich war, geholfen. Tino litt an einer Angina Pectoris, die zu einem Infarct geführt hatte. Eine Thrombose, der noch eine Urämie vorangegangen war, hat dann zum Tode geführt.
Ich habe ihr, wenn sie für Sekunden ihr Bewußtsein wiedererhielt, gesagt, daß Sie sie grüßen lassen und zu ihr kommen werden. Auch K. hat ihr etwas Ähnliches gesagt, um ihr zu zeigen, daß sie nicht allein ist.
Die Beerdigung war so würdig, wie es zu erwarten war. Ungefähr sechzig Leute erwiesen ihr das, was man so die letzte Ehre nennt.
Der Rabbiner Wilhelm sprach ihr Gedicht „Ich weiß“ aus dem Blauen Klavier. Gerson Stern sagte das Kaddisch.
K. legte als einzige auf ihr Grab wenige schöne Blumen. Und dann gingen alle zur Tagesordnung über…
Es ist eine Maske vom Gesicht und von den Händen abgenommen worden. Eine Zeichnerin hat einige Porträts versucht. Hoffentlich ist die Maske gelungen.
Ich bin todmüde und wie zerschlagen… Für heute nur diesen traurigen Gruß

Euer W.

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

 

 

Carl Stern: Erinnerungen an Else Lasker-Schüler

Zum 60. Todestag der Autorin:

Hubert Gaisbauer: Vielleicht glaubt Gott an mich
Die Furche, 20.1.2005

Zum 70. Todestag der Autorin:

Burkhard Reinartz: „Meine Seele verglüht in den Abendfarben Jerusalems“
deutschlandfunk.de, 21.1.2015

Zum 150. Geburtstag der Autorin:

Else Lasker-Schüler 150 Jahre Meinwärts
els2019.de

Lutz Hagestedt: Das Herz der Avantgarde
literaturkritik.de, Februar 2019

Peter Mohr: „Bin ein tieftrauriger Mensch“
titel-kulturmagazin.net, 11.2.2019

Oliver vom Hove: Eine große Liebende im Porträt: Else Lasker-Schüler
Der Standart, 3.2.2019

Stefan Dege: Lyrikerin, Poetin, Zeichnerin: Else Lasker-Schüler zum 150. Geburtstag
Deutsche Welle, 8.2.2019

Ulf Heise: Der „schwarze Schwan Israels“
FreiePresse, 8.2.2019

Andreas Kilcher: Prinz Jussuf von Theben, die Dichterin aus Wuppertal
tachles.ch, 8.2.2019

Christian Lindner: Die Dichterin Else Lasker-Schüler
deutschlandfunk.de, 11.2.2019

Andreas Platthaus: Fernab der Stiefwelt
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.2.2019

Thomas Hartmann: Else Lasker-Schüler – die provokante Poetin
mdr.de, 11.2.2019

Ulrike Sárkány: Große Lyrikerin mit positivem Weltbild
ndr.de, 11.2.2019

Natascha Freundel: Am Grab von Else Lasker-Schüler
ndr.de, 7.2.2019

Marie Luise Knott: Blau vor Paradies
perlentaucher.de, 14.5.2019

 

Zum 75. Todestag der Autorin:

Nina Schmedding: Immer unbeirrbar sie selbst
domradio.de, 22.1.2020

 

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + VerzeichnisIMDb +
Archiv 1, 23 + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Else Lasker-Schülers Lebenszeichen aus Berlin im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

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