Heinrich Vormweg: Zu Günter Grass’ Gedicht „Adornos Zunge“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Grass’ Gedicht „Adornos Zunge“ aus Günter Grass: Gesammelte Gedichte. 

 

 

 

 

GÜNTER GRASS

Adornos Zunge

Er saß in dem geheizten Zimmer
Adorno mit der schönen Zunge
und spielte mit der schönen Zunge.

Da kamen Metzger über Treppen,
die stiegen regelmäßig Treppen,
und immer näher kamen Metzger.

Es nahm Adorno seinen runden
geputzten runden Taschenspiegel
und spiegelte die schöne Zunge.

Die Metzger aber klopften nicht.
Sie öffneten mit ihren Messern
Adornos Tür und klopften nicht.

Grad war Adorno ganz alleine,
mit seiner Zunge ganz alleine;
es lauerte auf’s Wort, Papier.

Als Metzger über Treppenstufen
das Haus verließen, trugen sie
die schöne Zunge in ihr Haus.

Viel später, als Adornos Zunge
verschnitten, kam belegte Zunge,
verlangte nach der schönen Zunge, –

zu spät.

 

Ein Gelegenheitsgedicht

Böse,
wie nur eine Sütterlinschrift böse sein kann,
verbreitet er sich auf liniertem Papier…
(Günter Grass: „Der Dichter“)

Theodor W. Adorno soll damals, anno 1965, gesagt haben, nein, er habe sich über das Gedicht nicht geärgert. Grund dazu hätte er gehabt. Wie Günter Grass in „Adornos Zunge“ – kurz nach Erscheinen von Adornos Jargon der Eigentlichkeit, die erst 1966 vorgelegte Negative Dialektik im voraus parodierend – das Mit-Zungen-Reden des Philosophen der Kritischen Theorie bildhaft auf den Punkt lüsterner Eitelkeit gebracht hat, das war von zugreifender, durch schwarzen Humor verstärkter Bosheit. Aber Adorno war wohl in der Tat viel zu klug, um sich zu ärgern. Eher schloß er, so ist zu vermuten, daß sich ihm mit diesem Gedicht eine neue Dimension des Ruhms auftat. Jetzt wurden sozusagen schon Straßenlieder auf ihn gemacht, und nicht von irgendeinem.
Eine Voraussetzung für das Verständnis dieses Gedichts ist, einiges von Adorno zu wissen und sich an die Zeit um 1965 zu erinnern, das Jahr, in dem Grass „Adornos Zunge“ geschrieben und zuerst veröffentliche hat. Eines ist damit sogleich klar: Grass hatte zu seiner poetischen Attacke durchaus Anlaß. Damals, vier Jahre vor Adornos vorzeitigem Tod, zwei Jahre vor Beginn der Studentenrevolte war der Philosoph auf dem Höhepunkt seiner öffentlichen Wirkung. Überall seine Stimme, überall seine Reden, Vorträge, Aufsätze in Sachen Gesellschaft, Ästhetik, Musik, Literatur. Ein großer Teil der Studenten hörte auf ihn. Und Adornos Zunge schuf offenbar Genuß auch solchen, die seine Argumente und Gedanken kaum verstanden. Ein Phänomen, kein Zweifel, eine sich aufdrängende Herausforderung, auch einmal dagegenzureden, sich zu mokieren. Aus verschiedenen Gründen gehörte dazu freilich einiger Mut.
Günter Grass hat die Gelegenheit aufgegriffen. Er hat auf sie reagiert mit einem Gelegenheitsgedicht, und zwar in jenem Sinn, laut dem er sich in seiner November 1960 auf der Tagung „Lyrik heute“ in Westberlin gehaltenen Rede „Das Gelegenheitsgedicht oder Es ist immer noch, frei nach Picasso, verboten, mit dem Piloten zu sprechen“ als „eingefleischter Gelegenheitsdichter“ bekannt hat: einem den Begriffen, gar der Definition sich entziehenden, den komplex dichterischen Anspruch lässig, ironisch, doch entschieden reklamierenden Sinn.
Grass wollte kein programmierter und programmierender, kein „Labordichter“ sein, sondern einfach ein Dichter, kraft eigener Imagination, eigener Bilder. Andere Voraussetzungen erkannte er nicht an, und hieran ist zuallererst zu erinnern. In deutlich provokatorischer Absicht hat er in jener Rede auch einige „Kniffe des Gelegenheitsdichters“ verraten. Zum Beispiel diesen:

Sobald ich das Gefühl habe, es liegt wieder mal ein Gedicht in der Luft, vermeide ich streng, Hülsenfrüchte zu essen, und fahre oft, obgleich mich das teuer zu stehen kommt, sinnlos sinnvoll mit dem Taxi, damit sich jenes in der Luft liegende Gedicht löst […].

Leider hilft das nicht in jedem Fall. Manchmal läuft es genau andersherum:

Wenn also ein Gedicht in der Luft liegt und ich ahne, diesmal will sie, nämlich die Muse, mich mit etwas Fünfstrophigem, Dreizeiligen heimsuchen, helfen mir weder der Verzicht auf Hülsenfrüchte noch unmäßiges Taxifahren, dann hilft nur eines: grüne Heringe kaufen, ausnehmen, braten, in Essig einlegen, Einladungen zu Leuten, die gerne über elektronische Musik reden, ablehnen […].

Und so weiter.
„Adornos Zunge“ ist kein fünfstrophiges dreizeiliges, sondern ein siebenstrophiges dreizeiliges Gedicht mit einem eigens abgesetzten, fast seufzenden Nachtakt. Grass dürfte einen dritten seiner Kniffe angewandt haben, als dieses Gedicht in der Luft lag. Aber egal, welchen: auch „Adornos Zunge“ ist nicht zu dem Zweck verfaßt, hinsichtlich Entstehung und Aussage bis zum letzten I-Punkt erklärbar zu sein. Sondern als ein Gedicht von Günter Grass, dessen Bildmetaphern beanspruchen, als sie selbst akzeptiert zu werden. Die Erklärlust allerdings fordert auch dieses Gedicht von Grass gerade damit dringlich heraus.
Relativ leicht zu befriedigen ist sie, soweit es um die Zunge selbst und das Vergnügen ihres Besitzers an ihr geht. Dieses Bild ist mit all seinen Andeutungen spontan faßlich als die Parodie einer selbstzufriedenen und -gefälligen, ihres Erfolgs sicheren Zungengewandtheit. Die Zunge allein ist die Botschaft, ließe sich mit Seitenblick auf McLuhan festhalten. Auf den Bezug des Zungenwerks zu irgendeiner rauhen Wirklichkeit kommt es überhaupt nicht an. Das Gedicht suggeriert dies allein schon mit dem einen Wort vom „geheizten“ Zimmer, in dem Adorno beim Spiel mit seiner Zunge sitzt. Während der Leser noch denkt: natürlich geheizt, falls Herbst oder Winter ist, wieso auch nicht – während er so denkt, drängt auch schon ein leises Aha nach vorn: In solcher Welt also lebt er, Adorno mit der schönen Zunge, in einer bequemen, abgeschirmten, stets angewärmten Zimmerwelt, die den wirklichen Auseinandersetzungen enthoben ist. Da hat er es leicht, mit der Zunge zu spielen, so behaglich und sicher, wie er sich fühlt. Welch Gefühl nur leider auf Irrtum beruht.
Von beträchtlicher Impertinenz die beiden weiteren Momente in diesem idyllischen Bild. Beim „runden / geputzten runden Taschenspiegel“ (7f.), in dem Adorno seine schöne Zunge spiegelt, kommt eine Assoziation von kleiner Rundlichkeit auf, die sich unversehens aus der Erinnerung an Adornos Statur verdichtet. Und wie in der Zeile „es lauerte auf’s Wort, Papier“ (15) die Wörter gesetzt sind, das gibt dem „Papier“ ein die Bedeutung erweiterndes Übergewicht. Alles nur Papier, was Adornos schöne Zunge zustande bringt?
Noch ehe die verräterische Idylle überhaupt ausgemalt ist allerdings, bereits in der zweiten dreizeiligen Strophe, wird sie auch schon überschattet von einer Bedrohung, die auftaucht wie im Märchen, bildhaft zweidimensional wie die Idylle selbst, doch nicht nur wie diese weit offen für handfeste Assoziationen aus der Kenntnis der Person Adornos – für Assoziationen auch aus deutscher Geschichte. „… und immer näher kamen Metzger“ (6). Adorno hat als Linker und als Jude vor Hitler flüchten müssen. Haben die Bilderbogen-Metzger des Gedichts etwas mit den Naziverfolgern von damals zu tun? Ist es denkbar, daß sie mit diesen nichts zu tun haben könnten? Grass läßt die Metzger die schöne Zunge herausschneiden und ihre schrecklich gleichmütige Übermacht flugs wieder zurücksinken ins idyllisch-makabre Märchenbild. Wieder einfach nur Märchen-Metzger, verschneiden sie die schöne Zunge. Zungenwurst? Ist „belegte Zunge“, die es verspätet abgesehen hat auf die schöne Zunge, ein Möchtegern-Nachfolger? Deutet der Zungenverschnitt auf Adornos Schülerschar, aus der keiner es zu einer so schönen Zunge gebracht hat, wie der Meister sie hatte? Wird aus dem spöttischen Gelegenheitsgedicht auf den Philosophen ein Rundumschlag gegen die ganze Adorno-Schule? Kommen aus ihr etwa die Metzger?
Je weiter der Leser vorankommt im Gedicht, je mehr er sich auf es einläßt, desto mehr Fragen steigen auf, und das hat nichts damit zu tun, daß inzwischen irgendwelche 1965 unmittelbar aktuellen Bezüge verblaßt wären. Die Fragen blieben auch zur Zeit der Niederschrift des Gedichts schon Fragen. Auch damals schon war dies Blatt aus dem Grassschen lyrischen Bilderbuch so friedvoll-heillos ambivalent, wie es sich heute zeigt. Übrigens mit bis heute erstaunlich klaren Konturen und unverwelkten Farben, auf die man nur die Wahrnehmung wieder ein wenig einüben muß.
Wäre weiterzufragen nach Stellung und Stellenwert des Gedichts im lyrischen Œuvre des Gelegenheitsdichters. Zunächst die Daten. In der Ausgabe Gesammelte Gedichte, erschienen 1971, findet „Adornos Zunge“ sich im Teil „Gleisdreieck“. Aber im gleichnamigen, 1960 herausgekommenen Gedichtband des Autors ist das Gedicht noch nicht enthalten. Zuerst veröffentlicht wurde es in Heft 4 des Jahrgangs 1965 der Zeitschrift Akzente. In den Gedichtband Ausgefragt von 1967 nicht aufgenommen, wurde es in den Gesammelten Gedichten sozusagen zurückdatiert.
„Adornos Zunge“ hat, zwischen den Gedichten „Racine läßt sein Wappen ändern“ und „Sonntagsjäger“, im Teil „Gleisdreieck“ den angemessenen Platz. Das Gedicht drängt über die gleichsam handkolorierte Wunsch-, Spiel-, Bilderwelt der frühen Gedichte von Günter Grass, gesammelt in Die Vorzüge der Windhühner, auf ähnliche Weise hinaus wie die übrigen, sich der unmittelbaren Umwelt samt ihren Widersprüchen immer direkter aussetzenden Gedichte in „Gleisdreieck“. Dezidiert politisch wie so viele Gedichte dann in Ausgefragt ist es noch nicht. Unheimlichkeit, die Ahnung von Gefahr bleiben gebannt im Bild.
Auf das nur unmerklich, ähnlich einem nach altem Jahrmarktmuster gemalten Comic sich bewegende Bild assoziierend sich einzulassen – das bleibt die Voraussetzung, das Gedicht „Adornos Zunge“ zu begreifen. Es ist eine komplexe, in der Vorstellung zum sichtbaren Bild sich konkretisierende Metapher. Wie auch sonst meist in seinen Gedichten war der Zeichner Grass mit am Werk. Und wie auch sonst ist die Sprache des Gedichts, ferngehalten allem neueren, 1965 längst ausgearbeiteten Bewußtsein von der konditionierenden Eigenmacht der Sprache, naiv, doch mit einer Dringlichkeit und Kraft, die alle moderne Sprachproblematik für den Moment der Wahrnehmung außer Kraft setzt, über sie hinwegspringt und tatsächlich etwas Konkretes faßt. Allerdings im nicht völlig entschlüsselbaren, auf seinem Eigenwert bestehenden Bild.
Die noch immer gegebene direkt spürbare Gegenwärtigkeit des Gedichts beruht inzwischen weniger auf seinen schon zu seiner Entstehungszeit nicht rationalisierbaren aktuellen Bezügen als auf der unverhohlenen Künstlichkeit seines Bildcharakters, und diese ist es auch, die den Ausblick in Realität offenhält. Es funktioniert wie in den Märchen, in denen, selbst als Kindermärchen, das Schreckliche, Gewalt und Tod, anwesend sind, ohne daß die Idylle zerbräche. Sie wird bei Grass nur durchsichtig – wie der Wahn, dem Schrecklichen sei man oder ließe sich entkommen. Spürbar wird, wo dieses sich am wirkungsvollsten verbirgt. Aber die Idylle, das faßliche, beruhigende Bild ermöglicht auch das Weiterleben. Eine Spannung, die noch immer explosiv ist.
Die Zeilen aus dem Gedicht „Der Dichter“, aus „Gleisdreieck“, die als Motto dieser Überlegungen zitiert sind, zeigen nur den einen Impuls des Günter Grass. Das Gedicht geht weiter. Der Dichter verbreitet sich nicht nur auf liniertem Papier so „böse, wie nur eine Sütterlinschrift [!] böse sein kann“, er erschrickt auch über seine Wirkung: 

Alle Kinder können ihn lesen
und laufen davon
und erzählen es den Kaninchen,
und die Kaninchen sterben, sterben aus –
für wen noch Tinte, wenn es keine Kaninchen mehr gibt!

Neben allen anderen Ambivalenzen ist auch diese im Gedicht „Adornos Zunge“ virulent. Die Eitelkeit des Zungenspielers, die schrecklichen Metzger, die Untat – doch alles im Bild. Das Leben soll weitergehen, Adorno weiterreden, und ohne Metzger gäbe es nirgendwo Fleisch und Wurst zu kaufen. Im Gedicht ist das eine wie das andere wirklich.

1

Heinrich Vormweg, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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