Horst Krüger: Zu Rose Ausländers Gedicht „Jerusalem“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rose Ausländers Gedicht „Jerusalem“ aus Rose Ausländer: Gesammelte Gedichte. –

 

 

 

 

ROSE AUSLÄNDER

Jerusalem

Wenn ich den blauweißen Schal
nach Osten hänge
schwingt Jerusalem herüber zu mir
mit Tempel und Hohelied

Ich bin fünftausend Jahre jung

Mein Schal
ist meine Schaukel

Wenn ich die Augen nach Osten
schließe
schwingt Jerusalem auf dem Hügel
fünftausend Jahre jung
herüber zu mir
im Orangenaroma

Altersgenossen
wir haben ein Spiel
in der Luft

 

Ein Spiel in der Luft

Daß auch noch nach Auschwitz Gedichte möglich waren, ist heute bekannt. Jüdisches Schicksal, so unsagbar es war, ist gleichwohl dem großen lyrischen Zugriff nie ganz entzogen gewesen. Da und dort ist es sagbar geworden. Die deutsche Nachkriegslyrik, von Celan bis Hilde Domin heute, hat es immer wieder bewiesen.
Von allen Gedichten, die in unserer Zeit jüdische Existenz behandeln, scheint mir dieses hier, ich sage nicht: das tiefste, wohl aber: das schönste und kunstvollste, das ich kenne. So leicht und schwebend, so klaglos vollendet zur ätherischen Sprachgebärde hat noch kein Gedicht Jerusalem, das fünftausendjährige Motiv des jüdischen Volkes, in Verse gefaßt. Da schwappt nichts über, da hängt nichts herab an zusätzlicher Trauer.
Was ist Kunst? Ich vermute: nicht Tiefsinn und raunendes Geheimnis. Kunst ist Spiel. Die wahren Künstler sind die Akrobaten, die glitzernden Artisten, in der Zirkuskuppel schwebend, die Ballerinen, die die absurdesten Figuren in bestürzender Leichtigkeit tanzen können. Kleist schon hat uns gesagt, daß die Marionette wahrscheinlich die vollendetste Kunstfigur sei, und etwas von dieser zweiten, artistischen Leichtigkeit, die ganz zum Schluß kommt, macht mir dieses Gedicht so wertvoll und originell. Es ist kein Tanz über Abgründen. Der Abgrund selber ist hier zum Tanz der Sprache geworden.
Rose Ausländer, der Name ist schon wie ein Omen, gehört heute mit Sicherheit zu den bedeutendsten Lyrikerinnen deutscher Sprache. Ein Leben lang fast unbeachtet, ist sie in den letzten Jahrzehnten bekannt, aber nie berühmt geworden. Das Besondere ihrer Lyrik, die nie umfangreich, aber poetisch genau war, ist, daß sie sich nie festlief in dunkler Trauer wie die Lyrik Celans oder die der Nelly Sachs. „Hinter der Tränenwand / die Phönixzeit / brennt“ heißt es in einem anderen Gedicht zum selben Thema. Verwandlung und neue Gestalt ist also ihr Thema.
„Mein Schal ist meine Schaukel“ – ich meine, es gehört Souveränität, hoher Kunstverstand, auch einsame Tapferkeit dazu, ein Gedicht in deutscher Sprache nach Auschwitz über Jerusalem so auszubalancieren, ohne daß auch nur ein Hauch von Kunstgewerblichkeit spürbar würde. Das Gedicht ist von der ersten bis zur letzten Zeile durchweht von Luft, von der schwingenden Gebärde eines Flügelschlags, der Raum und Zeit mühelos durchmißt und sich aneignet:

Wenn ich die Augen nach Osten
schließe
schwingt Jerusalem auf dem Hügel
fünftausend Jahre jung
herüber zu mir
im Orangenaroma

Es wird nichts symbolhaft, nichts dunkel vieldeutig. Hohe Artistik zieht ihre Schleifen, wie alle vollendete Kunst scheinbar ganz schwere- und mühelos. Nichts muß hier zusätzlich entschlüsselt werden.
Oder doch? Was besagen diese letzten drei Zeilen, die wie von selbst ausklingen und doch merkwürdig rätselhaft bleiben:

Altersgenossen
wir haben ein Spiel
in der Luft
?

Ich bin nicht sicher, aber ich vermute:
Jerusalem ist da. Es ist zu hören in der Luft, zu schmecken „im Orangenaroma“. Es ist aber auch (das Wort „Altersgenossen“ legt es nahe) damit zugleich das Spiel um Leben und Tod gemeint, das weitergeht, nicht nur für den Staat Israel. Es ist ein Spiel um Leben und Tod im Dasein eines jeden Juden, noch immer. Es ist ein Spiel, das ganz aus der Ferne sogar noch die Töne der „ Todesfuge“ von Celan hören macht.
Aber wir zart, wie scheu, in wieviel lyrischer Diskretion ist so Ungeheuerliches hier eingemischt. Tod und Leben sind ins Schweben gebracht.

Horst Krügeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

1 Antwort : Horst Krüger: Zu Rose Ausländers Gedicht „Jerusalem“”

  1. Rainer Kirmse , Altenburg sagt:

    Ein Gedicht über Jerusalem als Aufruf zum Frieden!

    Spielet lieber die Gitarre,
    Als zu tragen eine Knarre.
    Lasst die weißen Tauben fliegen,
    Aggression und Hass besiegen.

    JERUSALEM

    Stadt mit langer Geschichte,
    Jeden Tag im Rampenlichte;
    Von drei Religionen verehrt,
    Ist sie steter Unruheherd.

    Für Moslem, Jude und Christ
    Die Stadt heiliger Ort ist.
    Dem gleichen Gott gilt ihr Gebet,
    Ein Gott, der für die Liebe steht.

    Da sollte doch hier auf Erden
    Nun endlich Friede werden;
    Christen, Muslime und Juden
    Nicht länger sinnlos verbluten.

    Der Tempelberg muss Stätte sein,
    Wo Menschen kommen überein.
    Felsendom und Klagemauer
    Brauchen Frieden auf Dauer.

    David’s und Jesus‘ Christus‘ Stadt,
    Die Mohammed beherbergt hat;
    Erwartet jetzt einfach Taten
    Hin zur Hauptstadt zweier Staaten.

    Israel und Palästina,
    So weit entfernt und doch so nah;
    Es ist nun wirklich an der Zeit,
    Zu beenden Terror und Leid.

    Keiner ist des Anderen Knecht,
    Für alle gilt das Menschenrecht.
    Jeder kann glauben, was er will,
    Frieden und Freiheit unser Ziel.

    Rainer Kirmse , Altenburg

    Herzliche Grüße aus Thüringen

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