Horst Krüger: Zu Gottfried Benns Gedicht „Reisen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Reisen“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Reisen

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot ?

Bahnhofstraßen und Rueen,
Boulevards, Lidos, Laan −
selbst auf den Fifth Avenueen
fällt Sie die Leere an −

Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

 

Vergeblich das Fahren?

Das Gedicht ist bekannt. Es wird gelegentlich, wenn im kleinen Kreis vom Glanz und Elend des Unterwegs seins die Rede ist, gern und genußreich zitiert. Dabei ist charakteristisch, daß der Zitierende fast regelmäßig schon in der dritten Zeile ins Stocken gerät. Wie geht der Text jetzt weiter?
Dies liegt nicht daran, daß Zeile drei und vier schwächer waren. Auch sie sitzen sehr präzise. Sie stehen nur zu tief im Schatten der strahlenden Aufbruchsbewegung der Eröffnungssequenz. Einmal gelesen, haftet sie unvergeßlich: „Meinen Sie Zürich zum Beispiel / sei eine tiefere Stadt?“ In provozierend direkter Anrede und kühn mit einem Reizwort der klassischen Fremdenindustrie verbunden, wird kurzerhand eine traditionelle, blaue Reiseromantik außer Kraft gesetzt.
Trotzdem geht es hier nicht um traditionelle Tourismuskritik. Wenn das Gedicht überhaupt einen Adressaten hat (was die Anrede nahelegt, aber was ich bezweifle), so wäre da exklusive, großbürgerliche Einzelreisende von einst gemeint, der, der sich die Welt noch etwas kosten lassen kann: „Bahnhofstraßen und Ruen, / Boulevards, Lidos, Laan – / Selbst auf den Fifth Avenuen (wieso eigentlich ,selbst‘?) gerade dort fällt Sie die Leere an.“ Wer unterwegs auf großer Reise würde nicht diese Augenblicke der Vergeblichkeit kennen?
Aber offenbar geht es hier um ein viel spezielleres Problem – der Einsame, der Leidende, und man darf hier wohl einsetzen: der Dichter unterwegs. Ausgangslage ist die „Wüstennot“ des Reisenden, tiefe Unerlöstheit, die sich durch Flucht nach außen zu heilen hofft. Das Thema heißt: Gibt es Selbsterlösung durch Extraversion? „Meinen Sie, aus Habana… / bräche ein ewiges Manna?“
Sachlich gesehen (und aus eigener Erfahrung gesprochen) kann ich Benns großer Verneinung: „Ach, vergeblich das Fahren!“ zunächst so nicht zustimmen. Natürlich sind Neugier und Welthunger immer auch produktive Triebfedern der menschlichen Existenz und Entwicklung gewesen, Auch spielt im Leben sehr vieler Schriftsteller das Reiseerlebnis, vor allem in Krisenmomenten, eine wichtig Rolle, die innerlich weiterführte. Das gilt von Goethes italienischer Reise bis zu Gide, Camus, Malraux und anderen. Wäre Rilkes Malte Laurids Brigge je ohne seine erschreckende Paris-Erfahrung zustande gekommen? Die Reise als Materialsuche des Künstlers hat es immer gegeben, wird es auch weiter geben.
Sachlich gesehen? Benn, meine ich, spricht hier in Wahrheit gar nicht zur Sache. Er spricht – wie sollte es beim Lyriker der monologischen Existenz anders sein? – einzig über sich selbst, über sein Verhältnis zum Reiseexperiment, seine eigene Trauer und Unfähigkeit, seine Verschlossenheit. Lyrische Existenz ist für ihn hermetische Existenz. In den letzten zwei Zeilen ist Benn dann ja auch ganz bei sich, seiner immerwährenden Thematik, seinem Glockenklang: „bleiben und stille bewahren / das sich umgrenzende Ich“.
„Reisen“ ist, so gesehen, ein Abtasten seiner inneren Lage am Beispiel der Reise. Für seine „Wüstennot“ gibt es da nichts zu erhoffen. Es ist nur eine kleine Paraphrase zu seinem herrlichsten Gedicht. Es heißt einfach „Gedichte“ und formuliert kontrapunktisch und ins Positive gewentet, was er mit „Reisen“ nur indirekt umschreibt: „Es gibt nur ein Begegnen: im Gedichte / die Dinge mystisch bannen durch das Wort.“

Horst Krüger aus: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

3 Antworten : Horst Krüger: Zu Gottfried Benns Gedicht „Reisen“”

  1. Philolyros sagt:

    Das Gedicht ist oben falsch zitiert: „bleiben und Stille bewahren“. „Stille“ müsste klein geschrieben werden, es handelt sich um ein Adverb.

  2. Zibaldone sagt:

    Selbst auf den Fifth Avenuen (wieso eigentlich ,selbst‘?) gerade dort fällt Sie die Leere an.“
    Innerhalb der Zitatzeichen das Zitat ändern? Nun ja, ich hab’s anders gelernt.
    Und wieso fragt Krüger nach dem ’selbst‘. Er beantwortet es doch selbst: ’selbst‘ im Sinne von gerade, sogar.
    Anrührend ist im Übrigen die von Benn selbst gesprochene Version des Gedichts: ‚Fifth‘ spricht er aus wie ‚five‘.

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