Jan Volker Röhnert: Zu Georg Trakls Gedicht „Die Sonne“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „Die Sonne“. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

Die Sonne

Täglich kommt die gelbe Sonne über den Hügel.
Schön ist der Wald, das dunkle Tier,
Der Mensch; Jäger oder Hirt.

Rötlich steigt im grünen Weiher der Fisch.
Unter dem runden Himmel
Fährt der Fischer leise im blauen Kahn.

Langsam reift die Traube, das Korn.
Wenn sich stille der Tag neigt,
Ist ein Gutes und Böses bereitet.

Wenn es Nacht wird,
Hebt der Wanderer leise die schweren Lider;
Sonne aus finsterer Schlucht bricht.

 

Trakls gelbe Sonne

Es muss immer jemanden geben, der einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit ihren Anschein nimmt und sie betrachtet, als wäre er der erste Mensch: Die Sonne ist gelb. Es gibt diese Momente an verregneten Frühlingstagen, wenn der Himmel erst gegen Abend, bevor die Dämmerung vollends den Tag verschluckt, noch einmal aufbricht und ein gelbes Gleißen der sich weitenden blauen Öffnung unter den ausgefransten weißen Kondensschlieren und Wolkensäumen entströmt. Dann wird die Nacht plötzlich morgenhell, und es ist, als ginge die Sonne ein zweites Mal auf. Das ist die Trakl-Stunde. Mehr heure jaune denn bleue. 

Die Sonne ist ein gelber Fleck, der Bilder in den runden Himmel wirft, ihr Licht das Spektrum an Farben, die sich an Dinge und Wesen heften: dunkles Tier; rötlicher Fisch; grüner Weiher; blauer Kahn. Die Farbenmusik der Sonne tippt die Dinge an, bis sie von selber zu kreiseln beginnen und Geschichten klingen, die bis auf Abel und Kain zurückreichen: Jäger oder Hirt; Gutes und Böses bereitet. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, Traube und Korn reifen für den Wanderer heran. Brot, Wein und Sonne, das ist Trakls Dreieinigkeit. 

Auf zwölf Versen hebt und senkt sich seine Sonne wie es die am Himmel im Lauf der zwölf Stunden des Tages tut. Auf meiner Reclam-Ausgabe ist sie hinten Schwarz auf Gelb gedruckt. Aus der gelben Sonne ist der schwarze Bleibaum des Trakl’schen Gedichts geworden, das uns wie eine aus finstrer Schlucht brechende Fackel blendet. Wir müssen der Spur dieser Zeilen folgen. Wenn sich die schweren Lider heben, stimmen sie das Lied der Sonne an. Das Lied von Trakls gelber Sonne. 

Jan Volker Röhnert, aus Mirko Bonné und Tom Schulz (Hrsg.): TRAKL und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal, Stiftung Lyrik Kabinett, 2014

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00