Klaus Jeziorkowski: Zu Karl Krolows Gedicht „Terzinen vom früheren Einverständnis mit aller Welt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Karl Krolows Gedicht „Terzinen vom früheren Einverständnis mit aller Welt“ aus Karl Krolow: Die Zeichen der Welt. 

 

 

 

 

KARL KROLOW

Terzinen vom früheren Einverständnis mit aller Welt 

Erinnerungen sind Jagdhörner
Deren Ton im Winde vergehe.
Apollinaire

Die schöne Stille der Gewächse
– Zerbrechlich wie die Fabel Welt –
Umschlang ich sanft im Arm der Echse.

Zerbrechlich wie die Fabel Welt,
So ritt ich auf des Windes Nacken,
Den Oberon zusammenhält.

So ritt ich auf des Windes Nacken:
Ein grüner Schatten ohne Laut,
Befreit von meiner Schwere Schlacken.

Ein grüner Schatten ohne Laut.
Ach, von den Fischen trug ich Flossen
Und atmete durch Tigerhaut!

Denn von den Fischen trug ich Flossen.
Mein Geist erheiterte sich still.
Vom Gleichmut tausendfach genossen,

Erheiterte der Geist sich still,
Mit allen Wesen einverständig,
Zypressenfeuern, Asphodill.

Mit allen Wesen einverständig,
Beharrlich, ohne Ungeduld,
Und wie das Flötenholz lebendig.

Beharrlich ohne Ungeduld.
Kein Kartenspiel der Schwermut mehr:
– Wie Süßigkeit, die frei von Schuld

Verschwendet sich im Ungefähr…

 

Zu Karl Krolows

„Terzinen vom früheren Einverständnis mit aller Welt“

Dieses Gedicht, zum erstenmal gedruckt vor einem Dritteljahrhundert, ist einer der zentralen Orte im lyrischen Werk Karl Krolows, fast möchte man sagen, in der deutschen Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg.
Es wirkt zunächst wie ein Plädoyer für die werkimmanente Interpretation – die ja allmählich wieder rehabilitiert wird –, daß dieses Gedicht sich und seine Bedeutung beinahe selbst entschlüsseln könnte. Es scheint sich selber zu lesen. Hilft man noch mit einigen Informationen aus Krolows übrigem Werk und dem literarischen und gesellschaftlichen Kontext der Zeit aus, so könnte man das Gedicht fast sich selbst dechiffrieren lassen. Nicht mehr als ein paar Hebammen-Handreichungen wären nötig.
Natürlich gehören Titel und Motto schon zum Corpus des Gedichts. Sie sagen, daß von Früherem die Rede ist, von „Erinnerungen“, von einem „früheren Einverständnis“, das wahrscheinlich jetzt, beim Auftreten des Gedichts, so nicht mehr gilt. Vermutlich wird in der Überschrift auch jene leicht wegwerfende Redewendung zitiert, nach der vielleicht der oder jener immerzu „mit aller Welt“ sich entweder in den Armen oder in den Haaren liege, mit Krethi und Plethi, ein Stück Degout vor mangelndem Sichabgrenzen gegen etwas über das man mittlerweile hinaus ist. Die Erfahrung früherer Wonnen („der Gewöhnlichkeit“) wird distanziert bis reserviert betrachtet – hannoversch kühl, so denkt man sich gerne bei Krolow.
Es ist, im Motto, so, als ob Apollinaire Eichendorff gelesen habe. Freilich konnte man damals, kann man bis heute auch ohne unseren Romantiker draußen Jagdhörner hören, aber die Verbindung dieses Signals mit Psychischem, das Evozieren von Lust und Wehmut, von Wehlust über ein verlorengegangenes Paradies – den alten Garten der Kindheit, das Zauberreich der Natur – durch den Klang der Hörner ergibt sich besonders dicht beim Lesen Eichendorffs. Erinnerungen sind Jagdhörner, Jagdhörner sind Erinnerungen: Signale in unsere seelische Vorgeschichte zurück, Klänge, die an das rühren, was über die Zeit hinweg ins Unbewußte hinuntergesunken ist.
Krolows zweizeiliges Motto sind die beiden Schlußzeilen seiner eigenen Übersetzung des Apollinaire-Gedichts „Cors de Chasse“ (Jagdhörner) aus den Rhénanes: „Les souverurs sont cors de chasse / Dont meurt le bruit parmi le vent“. In Apollinaires Rhénanes selbst ist der Übergang vom Szenarium der deutschen Romantik zu den gebrochenen seelischen Erfahrungen innerhalb der modernen Zivilisation thematisiert und vollzogen, vom deutschen Rhein und von Eichendorff zur Pariser Welt – ein vorauseilender Parallelfall zu Krolows Paradigmawechsel vom deutschen Naturgedicht zur internationalen Moderne der surrealistischen Tradition Apollinaire wird für Krolow im Jahrzehnt ab 1950 zum Leitfossil der Erkundung der Moderne, ablesbar an Publikationen: In den Jahren 1950 bis 1959 läßt Krolow fast regelmäßig, mit Ausnahme der Jahre 1951, 1956 und 1958, Übersetzungen von Texten Apollinaires erscheinen (Paulus, S. 353ff.). Von den sechs selbständigen Bänden, die Krolow mit seinen Übersetzungen aus Fremdsprachen herausgibt, sind allein zwei Apollinaire vorbehalten (Paulus, S. 297). Das Gedicht wendet sich zurück zu einem früheren Zustand des so nicht mehr vorhandenen „Einverständnisses mit aller Welt“, es artikuliert teilweise vorrationale Erinnerungen an etwas, was seinerseits zum Teil vorrational war.
Der Sprechende äußert sich in Terzinen und etikettiert diese Form schon im Titel – ein häufiger Gebrauch bei Krolow zur Zeit seines Gedichtbandes Die Zeichen der Welt. Auffallend häufig sind dort in den Titeln schon die traditionellen lyrischen Genres benannt, denen die Gedichte sich zuordnen: „Morgenlied“, „Ballade“, „Winterliche Ode“, „Koreanische Elegie“ und andere mehr. Auch solche Beobachtungen relativieren die These vom Kahlschlag-Status unserer Nachkriegsdichtung und -lyrik. Vielfach wird bewußt gerade in der Wüstenei der Zeit Rückversicherung bei den schon im 17. bis 19. Jahrhundert etablierten Traditionen gesucht, überwiegend erst ab etwa 1950 die Orientierung an der weltliterarischen Moderne ertastet.
Die Terzinen, in den Zeichen der Welt gleich im nachfolgenden Gedicht „Terzinen drei Uhr nachts“ abermals bewußt aufgegriffen, gehören mit zum Traditionsarsenal. Weil sie vor allem wegen ihres Reimschemas sich dazu eignen, zu Ketten beliebiger Länge (oder auch Kürze) aufgereiht zu werden, hat sich schon von Dante an eine Tradition herausgebildet, in der die Terzinen zum Medium ernster Betrachtung, ins Allgemeine zielender Reflexion, weitreichender Über- und Rückblicke, der Besinnung – im weitesten Verstande wurden, so in der deutschen Literatur unter anderem bei Goethe am Beginn von Faust II und in dem Gedicht „Bei Betrachtung von Schillers Schädel“, bei Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Vor allem Hofmannsthals bekannte „Terzinen über Vergänglichkeit“ benennen schon im formelhaft gewordenen Titel den allgemeinen Gestus der Terzine: Reflexion auf Zeit und deren Vergehen, Rückblick und Überblick von der Warte des Desillusionierten, durch Erfahrung weise Gewordenen.
Es scheint, daß Krolow mit seinen Terzinen vom früheren Einverständnis mit aller Welt sich bewußt in diesen Raum gestellt hat, den die Hofmannsthalsche Terzinen-Formel bezeichnet. Alles, was in Krolows Gedicht zwischen dem ersten und letzten Vers ausgesagt wird, stellt sich dar als vergänglich und vergangen, freilich nicht als abgetan und überwunden, wie wir uns das von früheren Entwicklungsstadien eines Künstlers so gerne denken nach dem Hermann Bahrschen Modell des unausgesetzten Überwindens, das Karl Kraus in seiner „Überwindung des Hermann Bahr“ ad absurdum geführt hat mit dem Hieb: „Er überwindet jeden Tag vor dem Frühstück“: vielmehr im Sinne der Hofmannsthalschen Vergänglichkeit als aufgehoben und aufbewahrt.
In seinem Aufsatz „Vom poetischen Gedächtnis“ entfaltete Krolow 1963 seine Vorstellungen vom bewahrenden Amt des Poeten, vom Aufheben durch Rückblick und Erinnerung (Ein Gedicht entsteht, S. 138–143). Und drei Jahre später schrieb er in „Oskar Loerke – mein Modell?“: 

Wenn ich anfangs sagte, daß man sich seine literarischen Vorbilder nicht aussuchen könne, so wiederhole ich jetzt, daß man der literarischen Tradition niemals ganz entkommen wird. Über ein gewisses Maß der Entfernung von ihr wird es nicht hinausgehen. Ich glaube zuweilen noch die Echowirkungen zu spüren, die von dem ausgehen, was ich in jungen Jahren als Lyriker erfuhr. (Ein Gedicht entsteht, S. 136.) 

Der Wortlaut des Krolowschen Gedichts sagt es in vielen Nuancen, was hier aufgehoben erscheint: das frühere Umschlingen der Natur (3), der frühere Versuch des Eingehens in ihr Reich, ja des seligen Verschwindens in ihrem Dschungel, sagen wir es poetologisch mit allem Vorwissen von Krolows literarischem Werdegang: die frühere Orientierung an den Formen des deutschen Naturgedichts ist es, die mit diesen rückblickenden Terzinen aufgehoben erscheint.
Hier ist ein Stück Werkgeschichte fällig, die Krolow ja selbst in vielfältigen Notizen immer erneut aufgezeichnet und reflektiert hat. Krolows poetische Entwicklung ist durch ihn selbst so gut dokumentiert und bedacht wie bei wenigen anderen Autoren. Er weiß immer, was er warum tut – so erscheint es von außen gesehen. Zumindest weiß er es nach getaner poetischer Tat.
Krolows frühere Lyrik hat ganz unter dem Eindruck und in der Tradition des deutschen Natur- und Landschaftsgedichts gestanden, wie es von der Goethezeit, der Romantik, von Salis-Seewis und Matthisson kultiviert worden war und dann viel später von der sogenannten naturmagischen Schule – Oskar Loerke, Wilhelm Lehmann und Elisabeth Langgässer –, aber auch von Peter Huchel und Günter Eich in den Jahrzehnten zwischen 1920 und 1950 abgewandelt worden war. Hier hatte Krolow, nach vielfältigem eigenem Zeugnis, seine Lehrmeister, Väter und Nachbarn. Für die Zeit um 1950 aber bezeugt Krolow selbst ein allmähliches Abrücken von dieser Tradition, die er für sich in ihren Möglichkeiten ausgeschöpft fand, in der er Gefahren erkannte im Ritus der Rezeption, im Sichausliefern an botanische Wucherungen und immer neue Spezies, ans Gesetz der Botanisiertrommel, an immer neue Magien von Kraut und Arom. In der unmerklichen Degeneration des deutschen Naturgedichts zu einer Art von Tee- und Heilkräuterlyrik, wenn auch mit vielfältigen Bezügen zu Mythos und Kosmos, sieht er die Gefahr der Verprovinzialisierung einer sehr deutschen Tradition, die aus mehreren Gründen über den Zweiten Weltkrieg hinweg und in den ersten Jahren nach ihm Rettungsanker, im anschaulichen Sinne Wurzel geblieben war.
Um 1950 herum setzt für Krolow, und wohl nicht nur für ihn, das Kennenlernen der internationalen Moderne ein, das für ihn das Gewicht der deutschen Naturgedichtstradition entscheidend relativierte und zugleich ein charakteristisches Licht auf die wiederholt beobachtete Tatsache wirft, daß in der deutschen Nachkriegsliteratur Neuanfang, Wende- und Nullpunkt, wenn es sie gab, eben nicht am Kriegsende, sondern erst einige Jahre später lagen, daß die unmittelbaren Kriegserfahrungen in den ersten Jahren danach eher noch in der Sprache und den Formen deutscher Traditionen artikuliert wurden, wie bei Wolfgang Borchert mit den Mitteln Rilkes und des Expressionismus. Das Aufmerken auf die internationale Moderne geschieht verstärkt erst um 1950. Krolows Gedichtband mit dem so übernational programmatischen Titel Die Zeichen der Welt setzt und markiert in der Tat die Zeichen dieser Wende weg von heimischen Beengungen hin zum poetischen Diskurs der Welt; er ist Zeichen eines Paradigmawechsels. Um 1950 beginnt für Krolow mindestens ein Jahrzehnt des fast dramatischen Sichaneignens der lyrischen Moderne vor allem der romanischen Länder besonders Frankreichs und Spaniens, eine Phase der Internationalisierung und des Sicheinübens in Weltläufigkeit, nachdem er schon 1948 seine Nachdichtungen aus fünf Jahrhunderten französischer Lyrik hatte erscheinen lassen. Einige Stationen dieses Prozesses: 1951 wird Krolow Mitglied des PEN. Im Jahr danach ist er, programmatisch, bei den „Biennales Internationales de Poésie“ im belgischen Knokke. 1953 nimmt er am deutsch-französischen Schriftstellertreffen in Paris teil. 1957 läßt er Verlaine-Übertragungen erscheinen und Die Barke Phantasie. Zeitgenössische französische Lyrik in seiner Übersetzung, ebenso sieben von ihm übersetzte Gedichte aus Apollinaires Bestiaire ou Cortège d’Orphée. Im Jahr danach ist er auf der Tagung der Gesellschaft für deutsch-französische Zusammenarbeit in Paris, wo er sechs Monate als Unesco-Stipendiat lebt, u.a. auch in Kontakt mit Paul Celan. 1959 erscheint seine Übertragung Guillaume Apollinaire: Bestiarium. Im Frühling dieses Jahres ist er auf Vortragsreise in Portugal und Spanien. 1961 erscheinen seine Aspekte zeitgenössischer deutscher Lyrik und ein Jahr später die Bände Spanische Gedichte des 20. Jahrhunderts und Die Rolle des Autors im experimentellen Gedicht (alle Angaben nach Paulus, S. 286ff.). All das sind wahrhaft „Zeichen der Welt“, des Sichöffnens in den Diskurs der Moderne. Am besten läßt man Krolow selbst zu Wort kommen, wenn es darum geht, die Abwendung von den Gefahren des deutschen Naturgedichts und die Dramatik der neuen Wendung darzustellen: 

Rechtzeitig zu Hilfe kam mir dabei die Bekanntschaft mit der zeitgenössischen französischen und spanischen Lyrik, auf deren Studium ich damals Jahre verwendete. Mit ihr ergab sich für mich ein „Angebot“ ganz neuer Möglichkeiten der Stoffbehandlung, unter Umständen desselben Stoffes. Ich lernte bei der Beschäftigung mit den Franzosen, den Spaniern etwas kennen, was inzwischen auch schon wieder Geschichte geworden war: den Surrealismus in seinen Ausprägungen und Verwandlungen. Diese westeuropäische Literaturphase war, als ihre Wirkungen mich erreichten, längst ins Altern gekommen. Das Land, in dem sie von der Lyrik am wirkungsvollsten praktiziert worden war, Frankreich hatte sich vom Surrealismus – bis auf einige Nachhutgefechte – abgewendet. – Aber solcher Alterungsprozeß kam mir insofern zugute, als er mir bereits das zuführte, was die surrealistische Wort- und Bildbehandlung zu verarbeiten verstanden hatte.
Vor allem die vom Surrealismus geübte Metaphorik verhalf mir zu einer Lösung vom Stoff-Zwang des Naturgedichts, oder brachte mich doch in ein anderes und neues Verhältnis zum Stoff. Die Überwältigung durch ihn, die sich im Gedicht als jene merkwürdige Benommenheit bekundete, wie sie für die Natur,magie‘ so oft eigentümlich war, wich einem souveräneren Umgang mit ihm. Eine neue Gefahr tauchte auf. An Stelle der Knechtschaft des Stoffes konnte die Knechtschaft durch das Bild treten.
So hatte ich fortan eine Balance zwischen Stoff und Bild zu versuchen. Ich vermute, daß sich durch solchen Versuch in meinen Gedichten eine Art Schwebe-Vorgang einstellte
. („Oskar Loerke – mein Modell?“, in: Ein Gedicht entsteht, S. 133f.) 

Der deutsche Autor, zumindest seit 1933 behindert im Wahrnehmen internationaler Entwicklungen, holt als modern nach, was seinerseits schon wieder Historie ist. Das Anschluß-Suchen, so charakteristisch und wichtig für die deutsche Literatur nach der Nazizeit, ist hier Exempel und Modell geworden.
Mit dem Entdecken der Moderne vor allem der romanischen Literaturen steht für Krolow noch etwas anderes in verwandtschaftlichem Konnex: das Auffinden einer neuen Raum-Zeit-Perspektive, die er einerseits in der ausländischen Moderne des Symbolismus bis Surrealismus vorgeprägt, aber auch bei Loerke und Lehmann schon angeeignet gefunden hatte; das Entstellen und Deformieren der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, vorfindbar in allen Bereichen der künstlerischen Moderne, am sichtbarsten in der kubistischen und expressionistischen Malerei, etwa bei Picasso und Kandinsky. In der Literatur, im Gedicht sieht Krolow diesen „poetischen Aperspektivismus“ (Ein Gedicht entsteht, S. 131) sich ausformen in der kühnen, absoluten Metapher, im alogischen Bild von der Art, wie es Hugo Friedrich in seiner Struktur der modernen Lyrik als konstitutiv für die Moderne erkannt und erläutert hat. Ganz sicher ist dieser moderne Aperspektivismus des künstlerischen Werks das ästhetische Äquivalent zum Wandel vom naturwissenschaftlich-technischen Kosmos des Newtonschen Modells, bis ins 19. Jahrhundert gültig, hin zum ganz neuen Raum- und Zeit-Verständnis Einsteins und seiner Relativitätstheorie und der neuen Physik. Die absolute, aperspektivische, alogische Metapher der Moderne war der Ausdruck dieser neuen Ordnung der Dinge in Raum und Zeit, wobei eben für den Nichtexperten von Ordnung im herkömmlichen Sinne kaum noch die Rede sein konnte.
Zum Fixpunkt der Erfahrung dieser „perspektivischen Revolution“ (Ein Gedicht entsteht, S. 131) wurde um 1950 für Krolow in der Hauptsache Guillaume Apollinaire. Er muß für den deutschen Autor in der Mitte des dritten Lebensjahrzehnts zum Angelpunkt für die Erfahrung von Moderne generell geworden sein, die zunächst imaginäre Form jener Paris-Reisen, die Deutsche zu vielen Zeiten mit den künstlerischen Entwicklungen ihrer Epoche in Kontakt brachte; man erinnere sich nur an Rilke und George, die dort Rodin, Cézanne und Mallarmé gefunden hatten.
Wir wenden uns zu Krolows Gedicht zurück. Es ist uns durchgängig lesbar geworden als der Rückblick des Autors auf jene um 1950 krisenhaft sich aufhebende Phase des Redens in den Konventionen des Naturgedichts. Für jene zu Ende gehende Werk-Epoche steht, wie eine Girlande über dem Eingang in den Raum des Gedichts, „Die schöne Stille der Gewächse“ (1) und der ihr korrespondierende später benannte Zustand dessen, der in dieses stille Paradies des Vegetativen oder auch diese grüne Hölle zugelassen war: „Mit allen Wesen einverständig“ (17). Jenes jetzt allmählich unmöglicher werdende Naturgedicht war es, das das „frühere Einverständnis mit aller Welt“ trug und aussagte. Der Geburtshelfer des Abschiedes von jener Epoche, des Wandels, der Krise ist mit dem Motto in der Klammer genannt: Apollinaire, die Moderne vor allem der romanischen Länder – was besagt, daß dieser Paradigmawechsel von den grünen Wucherungen zur Weltstadtliteratur, von Loerke und Lehmann zu Apollinaire und Verlaine für Krolow bezeichnend sehr vornehm, ruhig, friedlich, „einverständig“ vor sich geht, die einander ablösenden Muster erscheinen quasi Arm in Arm in diesem Gedicht, geben den Sprechenden, das Ich, den Autor, das Gedicht einverständig einander weiter. Selten, so scheint mir, werden in Gedichten, in der Literatur die Phasen der Umorientierung, die Wachablösung der normsetzenden Vorbilder, die Gelenkstellen und Scharniere des literarhistorischen Prozesses so deutlich und transparent wie hier, überhaupt das Wesen des literarischen Zusammenhangs als eines historischen Diskurses, als eines Gesprächs der Zeiten und Kulturen. Freilich hat aus guten Gründen Krolow kein literarhistorisches Thesengedicht geschrieben und schreiben wollen, sozusagen um einen Epochenwechsel in gereimter Form anschaubar zu machen. Krolows aufmerksame Bewußtheit und intellektuelle Wachheit mit denen bei ihm immer zu rechnen ist, sind wie in seinen besten Gedichten, von denen es viele gibt – mehr als jene berühmten sechs oder sieben, die Theodor Storm auch den Großen nur zugestehen wollte –, hier vollkommen ins transparente Bild übergewechselt, das die Zustände des Früher wie in durchsichtigen Wasserfarben vor uns hinrückt:
Es gibt schließlich noch eine weitere Lesestufe, die das Gedicht ermöglicht: Der Titel, das Motto, die Verse sind Rückblick auf Gewesenes, teils im Gestus der Distanzierung, teils im fast klagenden Ton des Abschiednehmens von etwas, das selbst in jenen Zeiten, als es noch voll galt, die Spuren der Gefährdung und des Untergangs schon in sich trug. „Die schöne Stille der Gewächse“ war „Zerbrechlich wie die Fabel Welt“ (4), wie das Glück von Edenhall, so möchte man hinzutun. Die Zeichen der Verstörung sind jener früheren grünen Welt noch und schon eingeschrieben: „meiner Schwere Schlacken“ (9), „Schatten“ (10), „Asphodill“ (18) – seit Homer die Totenblume der antiken Mediterranee die Unterweltwiesenblume der Demeter-Tochter Persephone – und noch in der Negation „kein Kartenspiel der Schwermut mehr“ (23).
Spuren von Tod und Schmerz weisen auf jenes versinkende grüne Reich des früheren Naturgedichts zurück; der jetzt mit Apollinaire und der Moderne schon Zurückschauende und Draußenstehende sieht zurück wie auf ein Paradies, dessen Tore dröhnend und endgültig ins Schloß donnerten, ihn unwiederruflich aussperrend. Ich meine, das Gedicht läßt sich auch lesen als Parabel vom verlorenen Paradies und der verlorenen Unschuld eines seligen, hingegebenen Zustands. Hier bekommen die Terzinen – wie in Dantes Divina Comedia und ihrem Weg vom Inferno durch Purgatorio zum Paradiso – ihren großen menschheitsgeschichtlichen Sinn, ohne daß Krolows Gedicht als irgendwie religiös zu verstehen wäre. Wohl aber folgt es dem Topos vom verlorenen Paradies, das wie selbstverständlich als paradiesische Natur, als grüner Garten Eden erfahren worden war. Die klassischen Paradiesesmomente erscheinen zumindest angedeutet: das friedliche Miteinander dessen, was außerhalb des Gartens Eden einander auffrißt: „Ach, von den Fischen trug ich Flossen / Und atmete durch Tigerhaut!“ (11f.), „Mit allen Wesen einverständig“ (17). Löwe und Lamm, Adler und Mensch ruhen friedlich beieinander, wie übrigens auch in der antiken Paradiesestradition alle sonst verfeindeten Wesen einträchtig zuhören, wenn Orpheus die Leier spielt. Das Paradies, der Garten Eden, das Goldene Zeitalter, jene vergangenen Herrlichkeiten als der Orientierungspunkt der Idylle in ihrer mediterranen Provenienz, sei es der biblischen, sei es der antiken Hirtendichtung: so schlagen wohl auch bei Krolow im Rückblick auf das verlorene Naturgedicht noch idyllische Momente beim Darstellen des früheren Zustands mit durch, spurenhaft sich verdeutlichend in den „Zypressenfeuern“ (18) und im lebendigen „Flötenholz“ (21).
Noch einmal verdeutlicht sich der historische Ort: das Naturgedicht, das Paradies, das grüne Idyll sind verloren. Sie waren festgehalten worden gegen die Erfahrungen der historischen Katastrophe unserer dreißiger und vierziger Jahre, sozusagen zur Rettung. Ein halbes Jahrzehnt nach Weltkriegsende ist auch diese grüne Betäubung – „Benommenheit“, sagte Krolow selbst – zu Ende. Die Betäubung durch den weltgeschichtlichen Donnerschlag weicht nach einigen Jahren. Es beginnt die Reflexion jener Vertreibung aus dem Paradies, des Sündenfalls und des historischen Strafgerichts und Donnerwetters mit den zivilisatorischen Mitteln der Moderne.
Um den dreiteiligen Bauplan der Kombination von Titel, Motto und Gedicht zum Schluß noch einmal formelhaft zu verkürzen: Das moderne Motto erinnert sich des Gedichts als des gewesenen Paradieses, die Überschrift verschlingt beides in der kombinierenden Bewußtheit. Das Gedicht war das libidinöse oder traumatische Erlebnis, das Motto seine Analyse, der Titel seine Therapie.
Ob jenes „frühere Einverständnis mit aller Welt“ uns heute wieder nötiger wird? Brauchen wir heute vielleicht mehr als je das grüne Gedicht, grüne Lyrik, grüne Literatur? Es scheint, daß Krolows Rückblick nach über drei Jahrzehnten uns wieder zur Utopie wird: 

Mit allen Wesen einverständig,
Beharrlich, ohne Ungeduld,
Und wie das Flötenholz lebendig.
 

1

Klaus Jeziorkowski, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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