Les Murray: Gedichte, groß wie Photos

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Les Murray: Gedichte, groß wie Photos

Murray-Gedichte, groß wie Photos

KÜHLE GESCHICHTE

Identität vereinfacht den Menschen allzu grob.
Sie verleugnet die Kreuzung, wie Bäume es nicht
aaaaakönnen.

Bäume, die Höhe in selbstgestrickte Seiten
aus Grundwasser und Licht einwickeln,

sind hingestellte Schriftrollen, ungeöffnet am besten
aaaaazu lesen.
Sie lehnen aufeinander zu oder voneinander weg

in politischen Machenschaften ihrer Sonnenrivalität
oder auf knotige Befehle in der Erde hin.

Aus ihnen gesägte Klötze sind eng gebundene
Photokopien, die Nahrung und Ahnen auflisten.

Ewigkeiten später werden ihre konzentrischen Jahre
beredt über Leiden berichten und alte Melodien.

 

 

 

Sterne auf der Flucht

− Rückenansichten: Neue Gedichte des Australiers Les Murray. −

Wer je als Kind auf dem Bauernhof die Stirn eines Kalbes gestreichelt hat, diese knochige Platte mit dem warmen Fell, bis sich dann plötzlich die lange Zunge um den Unterarm schlang, der kennt die Wirklichkeit der Rinder. Dass diese massigen Tiere sich dem Menschen unterworfen haben, seine Pflüge und Karren ziehen, ihm Milch geben und in ihrer „friedlichen Tragödie waten“, um sich zuletzt aufessen zu lassen, ist ein Rätsel, das bloß durch die Sanftheit der Kuhaugen verständlich wird. „Kuhäugig“ galt ja den antiken Griechen sogar als Kompliment für Gottheiten. Womit wir bei der langen Vorgeschichte sind, die Les Murrays bibliophil edierten, von Johannes Beyerle illustrierten und von Margitt Lehbert wunderbar übersetzten Kuhgedichten vorausliegt. Es ist der endlose Viehtreck, der in der Urheimat der Indoeuropäer begann und nach Jahrtausenden in Australien am Ende der Welt angekommen ist: „Ich erwache in einer von Hufen geformten Welt.“ In dieser britischen Strafkolonie trafen die Outlaws und die Tradition des Westens – Christentum, Kunst, Technik, Viehzucht – auf die archaische Welt der Aborigines und ermöglichten so jenen Dichter, der mit Derek Walcott und Seamus Heaney das Dreigestirn der englischsprachigen Dichtung bildet. Les Murray, 1938 auf einer Farm zweihundert Kilometer nördlich von Sidney geboren, entstammt der Tradition, ist aber verblüffend modern. Sein Dichten kennt keine Methode, keine Manier. Wie Gott. Das klingt blasphemisch, doch der gläubige Katholik widmet all seine Bücher „To the glory of God“. Murrays Christentum hat zwei radikale Konsequenzen: den Respekt vor dem „Fleisch“, vor dem leidenden und lustvollen Körper auf Erden, und die unendliche Bemühung, einen gerechten Blick auf diese Welt zu gewinnen, der dem Blick Gottes nahekäme. Ziel von Murrays Poetik ist jene unendliche Aufmerksamkeit, „in der nichts verkürzt ist durch Perspektive“. Das Ergebnis ist hinreißende Vielfalt des Wahrnehmens, wie sie im Titel des Bandes „Gedichte, groß wie Photos“ angedeutet wird.

Selten wird die Perspektive der ersten Person eingenommen – und trotzdem gibt es kaum etwas Persönlicheres als diesen Band. Die Logik des Zweizeilers „Besucher“ bezwingt bei erstem Lesen: „Er klopft an der Tür / und hört wie sein Herz sich nähert.“ Murrays poetische Ökonomie ist stupend, ein Bedingungssatz genügt, um aus einem kosmologischen Theorem einen Mythos zu machen: „Wenn alles vor allem / flieht, dann sehen wir / nur die Rücken der Sterne.“ Les Murrays Dichtung zeigt uns die Welt von überall, vor allem von der Innenseite des Einzelnen. Nur durch Dichtung können wir erahnen, was im Schädel einer Kuh am Schlachttag vorgeht oder wie Blitze sich fühlen: „Länger leuchtend als ihre Lebensdauer / existieren sie nur im Orgasmus. / Dazwischen sind sie der Höhepunkt, an den die / Luft sich erinnert.“ Damit ist der Grenzwert des Irdischen bestimmt, von dem wir Menschen abfallen: „Alles außer der Sprache / kennt den Sinn der Existenz. / . . . / Selbst dieser närrische Körper / lebt ihn zum Teil, und hätte / in ihm seine volle Würde, / wäre da nicht die unwissende Freiheit / meines sprechenden Geistes.“ Aus dem Mund eines Dichters erhält dieser Gedanke seine volle Wucht, die man auch hinter wiederholten Bildern von Klippen und Wasserfällen ahnen kann. Der Abgrund unserer defizienten Realität übt eine gefährliche Anziehung aus, und Murray hat einen scharfen Blick für das Unglück hienieden.

Ein Satz genügt, um den Ehekerker eines Paares oder das Elend der Ureinwohner darzustellen: „nördlich des Flusses / trampt ein Dorfältester in Lederjacke / zum Begräbnis seiner Tochter.“ Murray ist Soziologe, Metaphysiker und Virtuose zugleich. Ein Gedicht gilt dem Tanz eines japanischen Hackmessers, ein anderes beschreibt die Fortbewegung von Quallen oder die „zögernden Löffel“ von Flüchtlingen, die misstrauisch wieder essen lernen. Nichts ist zu gering für Murrays Aufmerksamkeit, seine Teilnahme und seinen unfassbar großen Wortschatz: ein „ingwer-keksbrauner“ Hund ist noch eine harmlose Herausforderung für die Übersetzerin. Die Form von Axtstielen, Details der australischen Lokalgeschichte oder Pop-Songs erfordern akribische Recherche und Findeglück; das Ergebnis ist bravourös. Dass die beiden Bände in Kleinstverlagen erscheinen, ermöglicht ihre liebevolle, zweisprachige Publikation, beschämt aber zugleich die größeren Verlage und ihr Publikum.

Zweifler werden fragen, ob das Ganze nicht doch sehr disparat sei oder irgendwo nach Frömmelei rieche. Doch die Buntheit ist als Verteidigung des individuellen, bisweilen bizarren Geschöpfes gegen jede gleichmachende Theorie zu lesen, und offen religiös sind nur zwei Gedichte. Das eine stellt die Frage nach schuldlosem Leid und gesteht, dass die Antwort nicht von dieser Welt sein kann. Das andere Gedicht deutet die Antwort in der Erzählung von jenem Zimmermann Joseph an, der sich Jahrtausende des Spotts hätte sparen können: „Die Hörner. / Doch all diese Schwäche lag hinter ihm. / Die höfliche Präsenz hatte Sinn zu ihrem Gleichgestellten zu ihm. Wie er es sein würde von jetzt / an und bis in die kommende Welt.“

Thomas Poiss, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.7.2007

 

 

Les Murray spricht beim 15. poesiefestival berlin mit Margitt Lehbert über sein Werk.

 

 

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Les Murray – Lesung eines seiner Gedichte aus dem Buch Killing The Black Dog.

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