Albert Ehrensteins Gedicht „Der Berserker schreit“

ALBERT EHRENSTEIN

Der Berserker schreit

Die Welt möcht’ ich zerreißen,
Sie Stück für Stück zerglühn
An meinem lebensheißen
Und todesstarken Sinn.

Ich habe Land besessen,
Und Meer dazu, wieviel!
Ich habe Menschen gefressen,
Und weiß kein Ziel.

Und neue Sehnen wachsen,
Und neue Kraft ertost.
Vorwärts mit tausend Achsen,
Eh’ mir die Pest raubt West und Ost!

nach 1910

aus: Albert Ehrenstein: Werke. Hrsg. v. H. Mittelmann Bd. 4/1, Gedichte 1. Klaus Boer Verlag, München 1997

 

Konnotation

Das lyrische Ich des früh verzweifelten Dichters Albert Ehrenstein (1886–1950) hat oft mit einem gewaltigen seelischen Überdruck zu kämpfen. Der Berserker, der in diesem frühen, nach 1910 entstandenen Gedicht von einem Zerreißen der Welt träumt, ist ein Alter ego des Dichters, der schon als junger Mann unter einer existenziellen Ziellosigkeit litt. Der in Wien geborene Ehrenstein, der ursprünglich aus einer jüdisch-ungarischen Familie stammte, hat die heillosesten Gedichte des Expressionismus geschrieben.
Die gewaltigen Energieströme, die der Berserker hier gegen die Welt lenken will, verpuffen im Unbestimmten. Denn der „lebensheiße Sinn“, von dem er angetrieben wird, wird von einer „todesstarken“, autodestruktiven Besessenheit konterkariert. Die „Kraft“ kann diesen rauschhaft wütenden „Menschenfresser“ nicht retten – denn seine Aktionen haben die Richtung verloren. Nach einer jahrelangen Odyssee durch Europa ging der von dem heraufziehenden Faschismus angeekelte Ehrenstein 1932 in die Schweiz, 1941 dann nach New York, wo er 1950 in bitterster Armut starb.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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