Andreas Gryphius’ Gedicht „Abend“

ANDREAS GRYPHIUS

Abend

Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn /
Vnd führt die Sternen auff. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werck / wo Thir und Vögel waren
Traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit verthan!

Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glider Kahn.
Gleich wie diß Licht verfil / so wird in wenig Jahren
Ich / du / und was man hat / und was man siht / hinfahren.
Diß Leben kömmt mir vor als eine Renne-Bahn.

Laß höchster Gott / mich doch nicht auff dem Lauffplatz gleiten /
Laß mich nicht Ach / nicht Pracht / nicht Lust nicht Angst verleiten!
Dein ewig-heller Glantz sey vor und neben mir /

Laß / wenn der müde Leib entschläfft / die Seele wachen
Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen /
So reiß mich aus dem Thal der Finsternüß zu dir.

1646

 

Konnotation

Von Kindheit an hat Andreas Gryphius (1616–1664), der sprachmächtigste Dichter der Barockzeit, das factum brutum der Vergänglichkeit am eigenen Leib erfahren: Sein Vater, ein streng protestantischer Geistlicher, kam 1621 in den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs auf ungeklärte Weise ums Leben. Später musste Gryphius ohnmächtig zusehen, wie seine schlesische Heimatstadt Glogau in Schutt und Asche versank, zwei Pestepidemien überlebte er nur knapp. Das menschliche Dasein konnte er daher nur unter den Auspizien der Vergänglichkeit beschreiben.
Bei der meditierenden Betrachtung einer Abend-Szene hält sich das 1646 entstandene Sonett nicht lange auf. Bereits im zweiten Quartett übersetzt der Dichter das „verfallende Licht“ des Tages in das Bild der rasenden Vergänglichkeit, des Lebens als „Renne-Bahn“. In den beiden Terzetten folgt die Wendung zum Gebet. Der „ewig helle Glantz“ Gottes soll das schwindende Licht des Menschenlebens kompensieren; die Macht Gottes allein vermag es, aus dem Leben als einer Krankheit zum Tode zu erlösen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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