Christian Morgensterns Gedicht „Der Gingganz“

CHRISTIAN MORGENSTERN

Der Gingganz

Ein Stiefel wandern und sein Knecht
von Knickebühl gen Entenbrecht.

Urplötzlich auf dem Felde drauß
begehrt der Stiefel: „Zieh mich aus!“

Der Knecht darauf: „Es ist nicht an dem;
doch sagt mir, lieber Herre, – !: wem?“

Dem Stiefel gibt es einen Ruck:
„Fürwahr, beim heiligen Nepomuk,

ich GING GANZ in Gedanken hin…
Du weißt, daß ich ein andrer bin,

seitdem ich meinen Herrn verlor…“
Der Knecht wirft beide Arm empor,

als wollt er sagen: „Laß doch, laß!“
Und weiter zieht das Paar fürbaß.

nach 1910

 

Konnotation

Einen kuriosen Fall von autonomem Handeln eines Gebrauchsgegenstands führt hier der humoristische Großmeister Christian Morgenstern (1871–1914) vor. Ein Stiefel hat seinen Besitzer verloren, wandert eine Weile gedankenlos vor sich hin, und glaubt die ganze Zeit, sich am Fuße seines „Herrn“ zu befinden. Aufmerksam geworden auf die unmögliche Situation, verliert der Stiefel nicht etwa die Contenance, sondern entwirft wie nebenbei philosophische Sätze. So ist Morgensterns „Gingganz“ der sicherlich lustigste Kommentar zum berühmten Diktum des Dichters Arthur Rimbaud (1854–1891), das da lautet: „Ich ist ein anderer.“
Morgenstern hat das 1919 posthum veröffentlichte Gedicht aus zwei Wortbildungen komponiert. Der „Stiefelknecht“ wird zunächst in zwei handelnde Subjekte zerlegt, danach wird aus einem Verb und einem Adverb der „Gingganz“ zusammengefügt. Ein „Gingganz“, so Morgenstern in einem ironischen Selbstkommentar, repräsentiere für ihn einen in Gedanken Vertieften, Verlorenen, einen grüblerisch Zerstreuten, einen „Sinnierer“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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