Christian Morgensterns Gedicht „Die Unterhose“

CHRISTIAN MORGENSTERN

Die Unterhose

Heilig ist die Unterhose,
wenn sie sich in Sonn und Wind,
frei von ihrem Alltagslose,
auf ihr wahres Selbst besinnt.

Fröhlich ledig der Blamage
steter Souterränität,
wirkt am Seil sie als Staffage,
wie ein Segel leicht gebläht.

Keinen Tropus ihr zum Ruhme
spart des Malers Kompetenz,
preist sie seine treuste Blume
Sommer, Winter, Herbst und Lenz.

1913/14

 

Konnotation

Die profane Männer-Unterhose, heute sprachlich meist verschämt ins Anglizistische als „Shorts“ oder „Underwear“ abgeschoben, rief als Textil literarisch meist eher Peinlichkeit als Stolz hervor. Im Regelfall existiert sie in der Verborgenheit, je nach Intimitätsbedarf ihres Trägers. Ganz anders dagegen die Galgenlieder-Unterhose Christian Morgensterns (1871–1914), der sie im Licht der Öffentlichkeit flattern lässt.
Die Apologie der Unterhose findet sich in Morgensterns nachgelassenem Band Palma Kunkel von 1916. Hier regiert der Blick eines Malers auf eine Art Kultobjekt. Der liebevolle Humorist Morgenstern preist das offenbar klassisch weiße Textil („wie ein Segel leicht gebläht“) und veredelt sie sogar in der letzten Strophe zur ruhmvollen „Blume“, die in allen Jahreszeiten besungen werden muss.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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