Christian Saalbergs Gedicht „MAN SAGT, dass das wahre Leben abwesend sei.…“

CHRISTIAN SAALBERG

MAN SAGT, dass das wahre Leben abwesend sei.
Sucht es, wo es nicht ist. Ich kenne keinen anderen Ort.

Man sagt, dass Vergessen nur den Göttern gelingt.
Seid still.
Bin nicht gewesen, bin gewesen, bin nicht mehr.
Keine Sorge.

Man sagt, dass nur gelingt, was unvollendet bleibt, verpasst und fallengelassen.
Ich verstehe schon.

Der September verbrennt die alten Tage.
Aus den Trümmern klaube ich mir vom Himmel das letzte Blau.
Schminke für die Augen, wenn es graut.

1999

aus: Christian Saalberg: Namenloses Gehölz. Roderer Verlag, Regensburg 1999

 

Konnotation

Christian Saalberg (1926–2006), der phantastische Dichter der Vergänglichkeit, hat mit traumverlorenen, eindringlichen Melodien das Wunder des Daseins und auch die Begrenzungen der Existenz besungen. Unter seinem bürgerlichen Namen Christian Rusche hat Saalberg jahrzehntelang das Leben eines pflichtbewussten Juristen geführt, bis er in den 1960er Jahren mit dem Gedichteschreiben begann. Als er im Mai 2006 starb, hatte er 23 Lyrikbände in diversen Kleinverlagen veröffentlicht, ohne dass der Literaturbetrieb davon Notiz genommen hätte.
Das 1999 verfasste Gedicht nimmt einen Grabspruch der römischen Stoiker in sich auf, der angesichts der Vergänglichkeit für Gelassenheit plädiert: „Non fui. Fui. Non Sum. Non Curo.“ Der Text ergreift durch sein emphatisches Sprechen, das er so selbstverständlich handhabt, als sei er unberührt von all den misstrauischen Diskussionen um Erhabenheit und Feierlichkeit, die in der Lyrik-Debatte der vergangenen Jahrzehnte ausgebrütet wurden.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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