Christine Lavants Gedicht „Es riecht nach Weltenuntergang“

CHRISTINE LAVANT

Es riecht nach Weltenuntergang

Es riecht nach Weltenuntergang
viel stärker als nach Obst und Korn,
der Vogel, der am Mittag sang,
dreht jetzt sein Opfer auf den Dorn,
ergreifend flach und ohne Schein
schiebt sich der Mond herein.

Hochsommernacht und so voll Frost!
Das Windrad geht verzweifelt um,
die Sterne scheinen nicht bei Trost,
denn jeder dreht sich wild herum,
bevor er zuckend untergeht
wie eben mein Gebet.

War das der zwölfte Stundenschlag
und mittendrin ein Hahnenschrei?
Es klang so nach dem Jüngsten Tag –
Mein Herz tanzt jetzt als hohles Ei
vor meinem eigenen Gesicht,
und das ist das Gericht.

nach 1940

aus: Christine Lavant: Die Bettlerschale, Otto Müller Verlag, Salzburg 2002

 

Konnotation

Das Leben der österreichischen Dichterin Christine Lavant (1915–1973) war ein einziges Exerzitium des Leidens und der Schwäche. Das neunte Kind der katholischen Bergarbeiterfamilie Thonhauer erlebte in ihrer Kindheit und Jugend ein grausames Martyrium aus Tuberkulose, Schmerzdelirien und Depressionen, das sich später in ihre Gedichte einschrieb. Die von ihr erfahrene Abwesenheit Gottes benannte sie in flucherfüllten „Lästergebeten“ (Ludwig von Ficker).
In ihren „Botschaften des Elends“ kündigt die Lavant die christliche Demut auf und erfindet sich eine lunatische Nachtwelt, in der sich ständig beunruhigende Zeichen am Himmel eröffnen: fatale Gestirne und mythische Menetekel. In einer trostlosen Welt stehen die Zeichen – wie hier in dem in den 1940er Jahren entstandenen Gedicht – immer auf Untergang.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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