Christine Lavants Gedicht „Wer wird mir hungern helfen“

CHRISTINE LAVANT

Wer wird mir hungern helfen

Wer wird mir hungern helfen diese Nacht
und alle Nächte, die vielleicht noch kommen?
Der runde Mond macht einen großen Bogen
weit von mir weg, ich bin ihm schon zu schmal.

So gerne ließe ich die Augen jetzt
wie Kieselsteine aus dem Fenster fallen,
daß ein Betrunkner, drunten auf der Straße,
sie tief hineintritt in den ersten Schnee.

Doch selbst als Blinde würde ich ja noch
von allem wissen und dich immer wieder
fortgehen sehen, denn es steigen Funken
wie Hungersterne mir vom Weinen auf.

1956

aus: Christine Lavant: Spindel im Mond. Otto Müller Verlag, Salzburg 2006

 

Konnotation

Viele Jahrhunderte hindurch hat die Poesie den Mond als verlässlichsten Himmelskörper mit den höchsten Sympathiewerten gefeiert: als auratische Erscheinung, begütigendes Gestirn und trostbereiten Hausgenossen. In den Gedichten der Christine Lavant (1915–1973) präsentiert er sich meist als ein bedrohlicher Trabant, der das Ich, das seine beschwörenden Formeln an ihn adressiert, in seinen Grundfesten erschüttert.
In diesem 1956 erstmals veröffentlichten Gedicht zeigt sich das Ich der Dichterin in seiner existenziellen Verlassenheit – ein erbarmungswürdiges Wesen, das ohne Zuspruch bleibt und einzig von quälendem metaphysischem und leiblichem Hunger zu berichten weiß. Selbst die Phantasie der Blindheit, mit der sich das Subjekt vor einer bedrohlichen Welt schützen will, hilft hier nicht weiter. Christine Lavant hat ein Selbstporträt der Dichterin als mondsüchtiges Wesen geschrieben – dessen Ausgesetztheit nicht aufhebbar ist.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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