Dorothea Tiecks Gedicht „Vergleich ich Dich dem Tag im holden Lenze?…“

DOROTHEA TIECK

aaaVergleich ich Dich dem Tag im holden Lenze?
Du bist weit süßer, bist Dir immer gleich:
Der Sturm zerreißt des Maien Blüten-Kränze,
Und kurze Zeit nur steht des Frühlings Reich.
aaaBald scheint zu heiß herab des Himmels Licht,
Bald hüllt in Wolken sich die goldne Spur.
Kein Schönes, dem nicht Schönheit oft gebricht,
Des Schmucks beraubt durch Zufall und Natur.
aaaJedoch Dein ew’ger Lenz soll nie verblühn;
Nichts diese Zierde, die Dir eigen, kränken;
Der Tod nie prahlend in sein Reich dich ziehn,
Da ew’ge Zeilen ew’ge Dauer schenken.
aaaSo lang, als Augen sehn und Menschen leben,
lebt dies, um ew’ge Jugend Dir zu geben.

um 1825

 

Konnotation

Die hochbegabte und sehr polyglotte Tochter Ludwig Tiecks (1773–1853), des „Königs der Romantik“, unterlag einem sehr konservativen Frauenbild. Die eigenen immensen Leistungen bei der Nachdichtung von Shakespeares Gedichten und Dramen wertete Dorothea Tieck (1799–1841) erheblich ab: „Ich glaube, das Übersetzen ist eigentlich mehr ein Geschäft für Frauen als für Männer, gerade weil es uns nicht gestattet ist, etwas eigenes hervorzubringen.“ Die Übersetzung sämtlicher Shakespeare-Sonette hatte Ludwig Tieck als die „Arbeit eines jüngeren Freundes“ ausgegeben – in Wahrheit stammten sie von seiner Tochter Dorothea.
In Dorothea Tiecks Nachdichtung von Shakespeares 18. Sonett wird die schmerzhafte Antinomie von Dauer und Vergänglichkeit, vom Traum ewiger Liebe und der ernüchternden Wirklichkeit ihres Vergehens im Bild des „holden“ Frühlings exponiert. Die ersten beiden Quartette reflektieren die Unabwendbarkeit des Verblühens (des Frühlings wie der Liebe), die beiden folgenden Gedicht-Teile beschwören dann die Utopie des zeitlich unbegrenzten Liebesparadieses.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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