Eduard Mörikes Gedicht „Ideale Wahrheit“

EDUARD MÖRIKE

Ideale Wahrheit

Gestern entschlief ich im Wald, da sah ich im Traume das kleine
Mädchen, mit dem ich als Kind immer am liebsten verkehrt.
Und sie zeigte mir hoch im Gipfel der Eiche den Kuckuck,
Wie ihn die Kindheit denkt, prächtig gefiedert und groß.
„Drum! Dies ist der wahrhaftige Kuckuck!“ – rief ich – „Wer sagte
Mir doch neulich, er sei klein nur, unscheinbar und grau?“

1837

 

Konnotation

Als Schicksalsvogel, der die Ankunft des Frühlings bestätigt und die Lebenszukunft der Menschen versinnbildlicht, wird der Kuckuck in Volkslegenden und in Dichtungen der Romantik verehrt. Im 1837 entstandenen Gedicht des schwäbischen Dichterpfarrers Eduard Mörike (1804–1875), dem man zu Unrecht eine Neigung zur biedermeierlichen Betulichkeit nachgesagt hat, markiert das Traumbild eines Kuckucks die Grenze zwischen der Alltagswirklichkeit und der sie transzendierenden Sehnsucht.
Diese Traum-Begegnung mit dem Kuckuck spiegelt wohl auch ein tragisches Grundmuster im Leben Mörikes: Nie überwand er die unerfüllte Liebe zu Maria Meyer (1802–1865), der er als 19-jähriger in einem Ludwigsburger Gasthaus begegnet war. Die Sehnsucht nach erfüllter Liebe wird wie die „ideale Wahrheit“ immer wieder mit dem Grau der Wirklichkeit konfrontiert. Nur im Traum behält der Kuckuck seine biologisch nicht vorhandene Farbigkeit. Das Trauma der Trennung, der Schock, in der Liebe immer wieder getäuscht worden zu sein, wird in kindlich anmutenden Versen artikuliert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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