Else Lasker-Schülers Gedicht „Meine Mutter“

ELSE LASKER-SCHÜLER

Meine Mutter

War sie der große Engel,
Der neben mir ging?

Oder liegt meine Mutter begraben
Unter dem Himmel von Rauch –
Nie blüht es blau über ihrem Tode.

Wenn meine Augen doch hell schienen
Und ihr Licht brächten.

Wäre mein Lächeln nicht versunken im Antlitz,
Ich würde es über ihr Grab hängen.

Aber ich weiß einen Stern,
Auf dem immer Tag ist;
Den will ich über ihre Erde tragen.

Ich werde jetzt immer ganz allein sein
Wie der große Engel,
Der neben mir ging.

1911

aus: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. JüdischerVerlag, Frankfurt am Main 1996

 

Konnotation

In dem gutbürgerlichen jüdischen Haus, in dem Else Lasker-Schüler (1869–1945) in Elberfeld bei Wuppertal aufwuchs, spielte Jeanette Schüler, die abgöttisch verehrte Mutter der Dichterin, eine Schlüsselrolle. Der frühe Tod der Mutter im Alter von 52 Jahren war für die junge Else 1890 ein schwerer Schock: „Wie meine Mutter starb, zerbrach der Mond“. Später widmete sie dem „Heiligenbild“ der Mutter ihre schönsten Gedichte.
In diesem Gedicht aus dem 1911 erstmals publizierten Band Meine Wunder erscheint die Mutter als geflügelte Himmelsbotin. Über das Bild des Engels legt sich aber auch ein Todeszeichen. Die Mythisierung der Mutter zur himmlischen Figur findet sich auch in motivverwandten Gedichten wie „Mein stilles Lied“, in der die Mutter „goldene Flügel“ hat, die hier als Sinnbild für Weltlosigkeit stehen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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