Fred Endrikats Gedicht „Sprichwörter“

FRED ENDRIKAT

Sprichwörter

Man darf dem Tag nicht vor dem Abend dankbar sein
und soll das Schicksal nicht für alles loben.
Ein Gutes kommt niemals allein,
und alles Unglück kommt von oben.

Die Peitsche liegt im Weine.
Die Wahrheit liegt beim Hund.
Morgenstund hat kurze Beine.
Lügen haben Gold im Mund.

Ein Meister nie alleine bellt.
Vom Himmel fallen keine Hunde.
Dem Glücklichen gehört die Welt.
Dem Mutigen schlägt keine Stunde.

1930er Jahre

aus: Das große Endrikat-Buch. Blanvalet Verlag, München 1976

 

Konnotation

Der Improvisationskünstler und Kabarettist Fred Endrikat (1890–1942), der in den 1930er Jahren auf den Münchner Kleinkunstbühnen als Nachfolger von Joachim Ringelnatz gefeiert wurde, hat sich selbst stets als „unpolitischen Verseschuster“ bezeichnet. Diese Neigung zum politisch Harmlosen hat seine Karriere im „Dritten Reich“ nachhaltig befördert. Der Sohn eines Bergmanns aus Wanne-Eickel ließ sich von der nationalsozialistischen Kulturpolitik vereinnahmen – und seine heiteren Couplets und Sketche kursierten auch als „Feldpostausgabe“ unter den Wehrmachtssoldaten.
In seinen letzten Lebensjahren tourte Endrikat unbehelligt durch Deutschland, während seine zeitkritischen Kollegen ins Exil gingen oder mit Auftrittsverbot belegt wurden. Seine stärksten Texte verweigern die heitere Affirmation und heben statt dessen die allerorten zirkulierenden Binsenweisheiten und Sinnsprüche aus den Angeln. „Dem Mutigen schlägt keine Stunde“: Für die Tat-Propaganda der Nazis waren solche listigen Gegensprüche absolut kontraproduktiv.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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