Friedrich Hölderlins Gedicht „An die Deutschen“

FRIEDRICH HÖLDERLIN

An die Deutschen

Spottet ja nicht des Kinds, wenn es mit Peitsch’ und Sporn
Auf dem Rosse von Holz mutig und groß sich dünkt,
Denn, ihr Deutschen, auch ihr seid
Tatenarm und gedankenvoll.

Oder kömmt, wie der Strahl aus dem Gewölke kömmt,
Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald?
O ihr Lieben, so nimmt mich,
Daß ich büße die Lästerung.

1799

 

Konnotation

Was Friedrich Hölderlin (1770–1843) ursprünglich in einem Taschenbuch für Frauenzimmer von Bildung für das Jahr 1799 veröffentlichte, wurde im 20. Jahrhundert zu einem der meistzitierten Verse zur Mentalitätsgeschichte der Deutschen. Die berühmte Zuschreibung „tatenarm und gedankenvoll“, die an den handlungsunfähigen Melancholiker Hamlet erinnert, zielt auf jenes Volk, das die Verheißung der Französischen Revolution ausschlug.
Die Hoffnung auf eine welthistorische Erschütterung kommt bei Hölderlin „wie der Strahl aus dem Gewölke“, eine Fügung, die eine zentrale Metapher seines Werks darstellt. „Leben die Bücher bald?“: Dieser Vers formulierte eine Utopie, die später bei den Aktivisten der 1968er-Bewegung wieder auflebte: im Glauben an eine Überführung der Poesie in unmittelbare Lebenspraxis. Zur Zeit der Niederschrift des Gedichts arbeitete Hölderlin als Hauslehrer bei einer Frankfurter Kaufmannsfamilie und verliebte sich in die Frau des Hauses, eine quälende Episode, die dem Leben des Dichters eine unglückliche Wendung gab.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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