Georg Rudolf Weckherlins Gedicht „Alters eigenschaften“

GEORG RUDOLF WECKHERLIN

Alters eigenschaften

Wer, wan er zweinzig jahr nun alt,
hat noch nicht schöne leibsgestalt,
und keine stärke, wan er dreißig,
und vierzig kein hirn und verstand,
und fünfzigjährig ist nicht fleißig
und reich an geld, gut oder land,
der wird sehr schwerlich hie auf erden
schön, stark, weis oder häbig werden.

um 1630

 

Konnotation

Als Hofdichter eines württembergischen Herzogs und später als Privatsekretär des englischen Außenministers wusste der frühbarocke Dichter Georg Rudolf Weckherlin (1584–1653) sehr genau das Spannungsverhältnis zwischen Poesie und Macht auszuloten. Nach dem Vorbild der französischen Renaissance-Lyriker komponierte der studierte Jurist seine kunstvollen Oden und Sonette und verfasste auch immer wieder pathetische Gelegenheitsdichtungen für ein höfisches Publikum. In dem im Barock beliebten Genre des poetischen Lebenslaufs hat er ein eher pessimistisches Porträt vorgelegt.
Es ist ein sehr protestantisches, ja calvinistisches Lebensmodell, das hier durchschlägt. In einer Art lebensgeschichtlicher Musterung werden hier Erfolgsnormen für ein höfisches Renaissance- und Barock-Publikum durchbuchstabiert und dabei gesellschaftliche Durchsetzungsfähigkeit als einzige Messgröße akzeptiert. Wer diese Erfolgsleiter nicht hochzuklettern imstande ist, dessen Existenzrecht ist in Frage gestellt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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