Günter Kunerts Gedicht „Achtzeiler“

Günter Kunert

Achtzeiler

Auf toten Flüssen treiben wir dahin,
vom Leben und dergleichen Wahn besessen.
Was wir erfahren, zeigt sich ohne Sinn,
weil wir uns selber längst vergessen.
Vom Augenblick beherrscht und eingefangen,
zerfällt der Tag, der Monat und das Jahr.
Und jede Scherbe schafft Verlangen
nach Ganzheit: Wie sie niemals war.

1990

aus: Günter Kunert: Fremd daheim. Carl Hanser Verlag, München 1990

 

Konnotation

In wenigen Gedichtzeilen die Trostlosigkeit der menschlichen Spezies einfangen – das ist eine poetische Kunst, auf die sich der 1929 geborene Günter Kunert früh spezialisiert hat. Der Brecht-Schüler wurde in den 1960er Jahren zum Skeptiker, als er das Trügerische der sozialistischen Heilsversprechen erkannte. Der anthropologische Befund, den Kunert der Menschheit in seinen Gedichten stellt, ist wenig ermutigend.
Schon in den ersten beiden Versen des 1990 erstmals veröffentlichten Gedichts ist die heillose Situation skizziert. Zur Erfahrung eines ausweglosen Dahintreibens in der Jetztzeit tritt die Erkenntnis der Selbstvergessenheit des Menschen. Der Wunsch nach metaphysischer Ganzheit der Existenz ist in einer unablässig zerfallenden Lebenswelt unerfüllbar. Weil Kunert die Geschichte als fortdauernde Katastrophe darstellt, haben Kritiker ihn als notorische „Kassandra“ verspottet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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