Eine schwindende Kulturtechnik

Kleines Plädoyer für die Handschrift

Die übliche Schreibbewegung ist heute der Tasten- oder Sensordruck mit gleichzeitiger stereotyper Übertragung der angetippten Einzelzeichen auf den Monitor, eine Geste, die keinerlei individuelle Prägung ermöglicht, wie es noch bei der mechanischen Schreibmaschine der Fall war. Das Tippen konnte auf der Tastatur mit stärkerem oder schwächerem Fingerdruck bewerkstelligt werden und wirkte sich dadurch indirekt auf das Schriftbild aus: Die Lettern variierten in ihrer Schwärze und Scharfzeichnung, das Papier empfing unterschiedlich tiefe Einschläge. Ausser durch den Personalstil des Verfassers waren damalige Typoskripte mithin auch durch physische − um nicht zu sagen: physikalische − Einwirkungen auf die Maschine als Dokumente einer individuellen Schreibweise beglaubigt.
Weit mehr noch gilt dies für handschriftliche Texte, bei denen der Körpereinsatz unmittelbar auf den Schriftträger sich auswirkt beziehungsweise auf diesen einwirkt – mit individuellen Energieschüben, mit ständig wechselndem Druck und Rhythmus. Im Gegensatz zur elektronischen Texteingabe ist die Handschrift, nicht anders als das maschinelle Schreiben, stets auch Inschrift, ist gravierte Information. Ob mit dem Stichel auf der Tontafel oder mit dem Kugelschreiber auf dem Notizblock – die Schrift ist das, was sich einprägt, ist eine unverwechselbar persönliche Spur, die von der Graphologie einst als „Spiegel der Seele“ aufgefasst und zur Deutung des menschlichen Charakters genutzt wurde.
Doch viel stärker noch, auch viel direkter als Seele oder Charakter kommt in der Handschrift die körperliche Beschaffenheit und Befindlichkeit des Schreibers zum Ausdruck: Die Kulturtechnik des Schreibens ist nicht zuletzt eine hochentwickelte Körpertechnik – die Grösse und Gliederung der Hand, die Länge des Unterarms, die Haltung der Schulter, die Muskelspannung, die Atemweite, all dies beeinflusst die Schreibbewegung und bestimmt das Design der Schrift. Dies geschieht unabhängig vom Inhalt der jeweiligen Nachricht, also – zum Beispiel − auch dann, wenn ein unverständlicher Fremdtext lediglich ab- oder nachgeschrieben wird; es geht demnach ausschliesslich um das Schriftbild und nicht um den Text als Bedeutungsträger.
Auf dem PC, auf dem Smartphone sind sinnliche Eindrücke, also „informative“ Gravuren dieser Art nicht mehr auszumachen. Die psychophysische Individualität des Schreibers bleibt verborgen, seine Manier erschliesst sich am ehesten noch – auf niedrigster Schwundstufe − über die grammatischen und orthographischen Fehler, die er unbekümmert eintippt, wissend, dass derartige Fehler weithin akzeptiert sind und anstandslos als „Stilmerkmale“ elektronischer Kommunikation abgehakt werden. Dass die Handschrift demgegenüber jegliche Attraktivität eingebüsst hat, kommt einem schwerwiegenden Kulturverlust gleich und bedeutet nichts weniger, als dass Selbstvergewisserung und Selbstausdruck vermittels Sprache und Schrift nach Jahrhunderten diesbezüglicher Erfahrung recht plötzlich uninteressant geworden sind.
Der Brief und die Ansichtskarte als einst höchst beliebte und oft genutzte Medien handschriftlicher Kommunikation sind abgelöst worden durch Instant Messaging via SMS, Twitter, iPad oder Email. Die Handschrift hat dadurch einen Ausnahmestatus gewonnen, sie ist von einer einstmals populären Alltagsgeste unversehens zu einem elitären Medium geworden. Nur in Ausnahmefällen kommt sie überhaupt noch zum Einsatz: als namentliche Unterschrift (bei Verträgen, Dekreten, Policen, Protokollen usw.), auf Prüfungsblättern, als Widmung in einem Buch oder zu einem Geschenk, allenfalls zur Übermittlung von Kondolenzen oder von Glückwünschen zu besondern Anlässen.
Die Handschrift jüngerer und junger Zeitgenossen, die mit PC und Handy aufgewachsen sind und ihre Schreibgewohnheiten entsprechend adaptiert haben, lässt in aller Regel kaum etwas von ihrer „Seele“, ihrem „Charakter“ erkennen – die Schrift wirkt zumeist unbedarft, unpersönlich, oft gar infantil; ein durchgehender beziehungsweise verbindender Zug fehlt ebenso wie das individuell gepflegte Detail (Schnörkel, Haken, Kürzel, Ligaturen usw.). Die Schriftzeichen werden vorzugsweise additiv aufgereiht, sei’s vereinzelt oder in Silben, so dass das Wort, der Satz, der Abschnitt wie auch der Text insgesamt seinen skripturalen Zusammenhalt weitgehend verliert. Die Dominanz des Buchstabens und damit der Geste des punktuellen Setzens (statt des integrativen Durchziehens) der Schrift ist sicherlich auf das gewohnte Tippen und Tasten bei der alltäglichen elektronischen Textverarbeitung zurückzuführen.
Das Schwinden des gestischen Schreibens als unwillkürliche, zwar vordergründige, dennoch deutungsbedürftige Kundgabe individueller menschlicher Eigenart wirkt sich auch auf der Sprachebene aus. Mit der linearen Dynamik der Handschrift und ihrer rhythmischen Ausprägung geht auch die Aufmerksamkeit (und das Interesse) für grammatische Fügungen und syntaktische Sequenzen verloren. Die Mitteilung – falls sie denn überhaupt noch sprachlich verfasst wird − bleibt zumeist auf Hauptsätze, fragmentarische Wortverbindungen oder Einzelbegriffe beschränkt, Vor- und Nachzeitigkeit werden nicht mehr klar markiert, Subjekt und Objekt nicht mehr klar geschieden. Die zusammenhängende schriftliche Aussage wird mehr und mehr abgelöst durch Einzelwörter mit Appellcharakter, aber auch durch nichtsprachliche Zeichen wie Icons und Emoticons.
Das Hinsehen wird das Nachlesen ersetzen. Dem Privatbrief oder dem postalischen Kartengruss zieht man eine kurzfristig erstellbare Skypeverbindung vor, statt Schrifttexten verschickt man per Handy technische Bilder (Videos mit Tonspur), die in Realzeit empfangen werden können – bereits alltäglich gewordene elektronische Verfahren, welche die Schrift, vorab die Handschrift schon jetzt als ein archaisches Auslaufmodell sprachlicher Kommunikation erscheinen lassen und die neuerlich bewusst machen, dass Texte, ob gedruckt oder von Hand geschrieben, lediglich Zweitfassungen von ursprünglicher (gesprochener) Sprache sind.
Nicht allein die Handschrift, auch die alphabetisch determinierte Schrift generell wird als Medium sprachlicher Kommunikation in bereits absehbarer Zeit ausgedient haben: Angesichts der stetig zunehmenden Komplexität der Alltagswelt (und der Geisteswelt insgesamt) erweist sich die Geste des Schreibens als zu wenig differenziert, zu wenig effizient und überdies als zu langsam und zu aufwendig, um sich längerfristig gegenüber digitalen Medien zu behaupten, die mit multidimensionalen Modellen, Programmen, Codes und hochentwickelten bildgebenden Verfahren operieren. Man denke daran (man erinnere sich!), dass die handschriftliche Texterstellung auf eine Vielzahl von materiellen Voraussetzungen angewiesen ist – auf eine Schreibfläche (Tisch, Brett), einen Schriftträger (Papier, Karton, Folie), ein Schreibwerkzeug (Feder, Kugelschreiber, Blei- oder Filzstift) sowie auf einen alphabetischen Zeichensatz.
Im Unterschied zum mündlichen Sprachgebrauch ist das Schreiben bekanntlich keine angeborene Disposition oder Fähigkeit: Es kann wohl, muss aber nicht notwendigerweise als Kulturtechnik erlernt werden – noch heute gibt es weltweit rund 800 Millionen Analphabeten, die auch ohne Schreibkompetenz auskommen, obwohl sie dadurch in mancher Hinsicht benachteiligt sind. Doch fragt sich nun immer dringlicher, ob in höher entwickelten Zivilisationen nicht vielleicht ein neuer, ein postskripturaler, also sekundärer Analphabetismus sich durchsetzen wird. Das Verschwinden der Handschrift ist ein untrügliches Anzeichen dafür.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00