Günter Kunerts Gedicht „Akt“

GÜNTER KUNERT

Akt

Sie spürt, daß hinter ihrem Rücken
etwas geschieht, das tut ihr gut.
Sie merkt mit wachsendem Entzücken
wie durch den Körper alles Blut
jetzt schneller kreist, während sie kniet:
Vor keinem Altar! Und erinnert später
sich wie an ein vergeßnes Lied,
an jene Wohltat wie auch an den Täter.

2009

aus: Günter Kunert: Als das Leben umsonst war. Hanser Literaturverlag, München 2009

 

Konnotation

Der Dichter Günter Kunert (geb. 1929), der wegen seiner apokalyptischen Imaginationen oft als „Kassandra von Kaisborstel“ rubriziert worden ist, hat viel mehr zu bieten als Kulturpessimismus – nämlich die hohe Kunst der Erotik. Gerade in seinem Alterswerk entwirft Kunert neben den bekannten Szenen der Heillosigkeit auch pikante Szenen, wie diesen klassischen Akt a tergo.
Das weibliche Subjekt des Gedichts kommentiert den „Akt“ wie ein beglückendes Geschehen. das sich ohne viel eigenes Zutun vollzieht. Der namenlos und eigenschaftslos bleibende Liebhaber erscheint als „Täter“, dessen „Wohltaten“ die Genussfähigkeit des Ich steigern. Der Text konzentriert sich weniger auf die Motivationen oder Eigenschaften der handelnden Figuren als vielmehr auf den Verlauf der Erregungskurve. Die Beglückung wirkt schließlich als Erinnerung an einen sinnlichen Ausnahmezustand fort, als Innewerden eines „vergeßnen Lieds“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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