Harry Oberländers Gedicht „Transit“

HARRY OBERLÄNDER

Transit

Wo bin ich nur? Nicht hier, nicht dort.
Bei Greisen, die sehr still verlöschen.
Was fehlt mir denn? Das letzte Wort
gewiß nicht. Aber leise widersprechen,

wenn sich das Leben vor der Nacht verneigt,
will ich. Dann darf ich dreimal raten,
was hinter welken Stirnen schreit und schweigt.
Die Zeit, die Bilder: Elend der Primaten.

1988/89

aus: Jahrbuch der Lyrik 1989/90. Hrsg. v. Christoph Buchwald und Rolf Haufs, Luchterhand Literaturverlag, Darmstadt 1989

 

Konnotation

In welchem Durchgangsstadium befindet sich der Transit-Reisende dieses Gedichts? Ist er nur Beobachter, der Einblick nimmt in die Lebenswelt alter Menschen, die ihr langsames Erloschen erwarten? Oder ist er selbst einer jener moribunden Greise mit „welken Stirnen“, die in ihrem stummen Dasein „das Elend der Primaten“ durchleiden? Das lyrische Subjekt des Schriftstellers Harry Oberländer (geb. 1950) vagabundiert offenbar auf unsicherem Terrain, ohne selbst die Richtung der (Lebens)Reise bestimmen zu können.
Es gibt freilich noch eine Beharrungskraft des Ich, die sich der devoten Ergebenheit in das Unabänderliche des Verfalls widersetzt: die Entschlossenheit zum „leisen Widerspruch“. Die Frage nach dem eigenen Standort angesichts der letzten Dinge, nach der Hinfälligkeit der menschlichen Existenz sind zwar nicht mit einer positiven Sinngebung zu beantworten. Der Wille zur Selbstbehauptung zerfällt vor dem Faktum des Todes.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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