Heiner Müllers Gedicht „Selbstkritik“

HEINER MÜLLER

Selbstkritik

Meine Herausgeber wühlen in alten Texten
Manchmal wenn ich sie lese überläuft es mich kalt Das
Habe ich geschrieben IM BESITZ DER WAHRHEIT
Sechzig Jahre vor meinem mutmaßlichen Tod
Auf dem Bildschirm sehe ich meine Landsleute
Mit Händen und Füßen abstimmen gegen die Wahrheit
Die vor vierzig Jahren mein Besitz war
Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend

1989/90

aus: Heiner Müller: Die Gedichte. Werke 1. Hrsg. v. F. Hörnigk. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1998

 

Konnotation

In seinen letzten Lebensjahren brillierte der DDR-Dramatiker Heiner Müller (1929–1995) als Dauergast in Talkshows, wo er den Stoiker der dunklen Rede gab, der jede Äußerung in eine Wolke sarkastischer Bonmots einhüllte. Müller präsentierte sich als „Beckett des Ostens“ und als düsteres geschichtsphilosophisches Orakel, das die historische Niederlage des DDR-Sozialismus auch als Korrektur langlebiger politischer Illusionen begriff. Nach dem politischen Umbruch von 1989 entstand die „Selbstkritik“:
Man sollte die „Selbstkritik“ des sozialistischen Fatalisten Müller nicht als reumütige Geste eines Desillusionierten missverstehen. Denn ein Titel wie „Selbstkritik“ verweist auch auf das Gewaltsame des Bekenntnisses. In den finstersten Zeiten des Kommunismus wurden den Abweichlern und „Trotzkisten“ vom großen „Generalissimus“ Stalin unter Androhung oder Vollzug von Folter Geständnisse und eben auch „Selbstkritik“ abgepresst.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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