Heinrich Heines Gedicht „Der Brief, den du geschrieben,…“

HEINRICH HEINE

Der Brief, den du geschrieben,
Er macht mich gar nicht bang;
Du willst mich nicht mehr lieben,
Aber dein Brief ist lang.

Zwölf Seiten, eng und zierlich!
Ein kleines Manuskript!
Man schreibt nicht so ausführlich,
Wenn man den Abschied gibt.

1830

 

Konnotation

Ende 1830 hatte Heinrich Heine (1797–1856) einen Zyklus mit Frühlingsliedern für den volkstümlichen Komponisten Albert Methfessel (1785–1869) geschrieben, um über eine „schlimme Zeit“ mit persönlichen und publizistischen Krisen hinwegzukommen. Die Heine-Rezeption zeigte sich enthusiasmiert angesichts der Anknüpfung in Ton und Motivik an das Buch der Lieder (1827). Tatsächlich scheint in vielen Gedichten dieses Zyklus ein neuer und zugleich in der Tonart vertrauter „Liebesfrühling“ ins Herz des Sängers einzuziehen.
Die Zuversicht des Liebenden, der hier einen Abschiedsbrief seiner Angebeteten studiert, ist ungebrochen. Tatsächlich markiert die Intensität der epistolarischen Zuwendung einen inneren Widerspruch zur Botschaft des Briefes. So mobilisiert der verlassene Liebhaber seine große Hoffnung aus der Energie des Textbegehrens, das er in dem umfangreichen Brief am Werk sieht. Wer sich der Schrift anvertraut und einem vertrauten Adressaten im Medium des Briefs so viel innige Zuwendung schenkt, kann seine Liebe nicht ganz verloren haben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00