Hendrik Rosts Gedicht „Auf Station“

HENDRIK ROST

Auf Station

Das Neugeborene machte
beim Trinken ein Geräusch
wie ein Schlauchboot
mit einem Leck,

der Gaumen war tief
innen gespalten, das Kind
erzeugte beim Saugen
keinen Unterdruck.

Die Eltern gaben ihm
noch keinen Namen,
tröstend einzuhauchen.
Oder später bei Liebe.

Schreiend verbrachte es
Zeit unter Menschen.
Luft entwich, ein Pfiff,
aus dem offenen Ich.

um 2005

aus: Neue Rundschau, Heft 1/2008. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008

 

Konnotation

Der 1969 geborene Lyriker Hendrik Rost bevorzugt den Habitus der Sachlichkeit. Im Gedicht über das vom Jacobsen-Syndrom (gespaltener Gaumen) versehrte Neugeborene ist es gerade dieser präzise, scheinbar emotionsfreie Blick auf das hilflose Lebewesen, der den Leser tief erschüttert. Das lyrische Subjekt konzentriert sich auf den medizinischen Befund – und gerade durch diese bezwingende Nüchternheit wird das eingeschränkte Leben des Neugeborenen so schmerzhaft vergegenwärtigt.
Auch so kann eine Poetik des Mitleids aussehen: Durch sachliche Mitteilungen wird der erbarmenswürdige Zustand eines Menschen evoziert. In der dritten und vierten Strophe wird die Empathie noch weiter vertieft: Das Neugeborene bleibt zunächst namenlos, als sei sein (möglicherweise sehr begrenztes) Leben von Beginn an verwirkt. Der versehrte Körper als Zeichen für ein „offenes Ich“ – Hendrik Rost hat ein sehr bewegendes Gedicht geschrieben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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