Hilde Domins Gedicht „Rückzug“

HILDE DOMIN

Rückzug

Ich bitte die Worte zu mir zurück
ich locke alle meine Worte
die hilflosen

Ich versammle die Bilder
die Landschaften kommen zu mir
die Bäume die Menschen

Nichts ist fern
alle versammeln sich
so viel Helle

Ich ein Teil von allem
kehre mit allem
in mich zurück
und verschließe mich
und gehe fort
aus der blühenden Helle
dem Grün dem Gold dem Blau
in das Erinnerungslose

1990er Jahre

aus: Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1987

 

Konnotation

Im Gegensatz zu vielen ihrer lyrischen Zeitgenossen glaubte die Dichterin Hilde Domin (1909–2006) an den Erlösungscharakter des poetischen Worts. Ihr emphatisches Sprechen hatte immer etwas Beschwörendes. „Vertrauen, dieses schwerste / ABC“ – diese Gedichtzeile lässt sich als Motto ihrer Arbeit begreifen. Mit dem innigen Durchbuchstabieren dieses „Vertrauens“ begann 1957 eine beispiellose poetische Erfolgsgeschichte, die Domin in den sechziger Jahren zur gefragtesten Poetin der Bundesrepublik aufsteigen ließ.
In einem sehr späten Gedicht, vermutlich in den 1990er Jahren entstanden, widmet sich das lyrische Ich ausschließlich der Erinnerung an diese poetische (Selbst-)Erlösung. Es ist ein poetisches Ritual der Selbstvergewisserung, die Verkündung eines endgültigen Rückzugs am Lebensabend. Was bleibt, ist die stille Introversion, die Bergung der Worte, Bilder und Landschaften in einer Innenwelt, in der alles hell zu leuchten beginnt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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