Jakob van Hoddis’ Gedicht „Ballade“

JAKOB VAN HODDIS

Ballade

Die Welt ist prächtig kompliziert
Vergoldet und bemalt.
Und ehe man sich ausstudiert
Wird man vergrämt und alt.

Dann sucht man einen simplen Stall
Oder ein Caféhaus
Und schwätzelt, wie ein Wasserfall,
Das Studium wieder aus.

Und schlängelt sich dann still nach Haus
Zu seinem Eheweib.
Und sucht sich eine Runzel aus
Und spielst dann Zeitvertreib.

1912/1913

aus: Jakob van Hoddis: Dichtungen und Briefe, hrsg. v. Regina Nörtemann. Wallstein Verlag, Göttingen 2007

 

Konnotation

Nur wenige Jahre blieben dem exzentrischen Arztsohn und Frühexpressionisten Jakob van Hoddis (1887–1942), um seine melancholisch-ironischen Abgesänge auf die moderne Welt als grelle Grotesken oder als böse funkelnde Visionen zu zelebrieren. Seine ersten Texte entstanden um 1907, nach seinem psychischen Zusammenbruch 1914 versiegte bald die literarische Produktion. In seinen Gedichten gibt es einen „großen grausen Humor“, aber auch den wüsten apokalyptischen Schrei. Van Hoddis verliebte sich unglücklich in eine Puppenkünstlerin; Ätherräusche und fixe religiöse Ideen verschärften seine psychische Krise.
Im Vergleich zu manch dissonanter expressionistischer Exaltation in van Hoddis’ Werk kommt die „Ballade“ aus dem Nachlass des Dichters fast entspannt, in humoristischer Friedfertigkeit daher. Der Lebenslauf des Bürgers wird hier ironisch als fortschreitender Verlust an Bildungsgut charakterisiert – jenseits des bürgerlichen „Geschwätzels“ bleibt nur der Rückzug in den Ehefrieden und das Altern in Langeweile.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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