Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Genialisch Treiben“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Genialisch Treiben

So wälz ich ohne Unterlaß,
Wie Sankt Diogenes, mein Faß.
Bald ist es Ernst, bald ist es Spaß;
Bald ist es Lieb, bald ist es Haß;
Bald ist es dies, bald ist es das;
Es ist ein Nichts und ist ein Was.
So wälz ich ohne Unterlaß,
Wie Sankt Diogenes, mein Faß.

1811

 

Konnotation

Der antike Denker und Lebenskünstler Diogenes (4. Jhd. v. Chr.), der laut Legende seinen Alltag in einer Tonne zubrachte, wird von der modernen Philosophie verehrt als provozierender Moralist, bissig-böser Individualist und Spötter mit kühl entlarvendem Blick. In einem launigen Epigramm aus seiner Frankfurter Zeit 1772–74 hat Goethe (1749–1832) den Repräsentanten der „kynischen vernunft“ zur Galionsfigur für den Dichter erhoben. Die Triebkraft des Genies ist für Goethe hier von hedonistischen Motiven bestimmt.
Der Regelverletzer Diogenes wird hier gar zur „heiligen“ Gestalt nobilitiert. Mit diesem „Genie“ ist kein Staat zu machen, sein Eigensinn im unablässig durch die Gegend gewälzten Fass ist zu groß. Das Epigramm ist somit auch eine Absage an das Hofdichtertum. Der Text erschien erstmals 1811 in den „Gesängen der Liedertafel“ und wurde dann später in der Werkausgabe der Gedichte der Abteilung „Epigrammatisch“ zugeordnet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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