Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Hatem“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Hatem

Nicht Gelegenheit macht Diebe,
Sie ist selbst der größte Dieb,
Denn sie stahl den Rest der Liebe,
Die mir noch im Herzen blieb.

Dir hat sie ihn übergeben,
Meines Lebens Vollgewinn,
Dass ich nun, verarmt, mein Leben
Nur von dir gewärtig bin.

Doch ich fühle schon Erbarmen
Im Karfunkel deines Blicks
Und erfreu in deinen Armen
Mich erneuerten Geschicks.

1815

 

Konnotation

Im Sommer 1814, auf einer Reise in seine Heimatstadt Frankfurt, kehrte der alte Goethe (1749–1832) beim Bankier Johann Jakob von Willemer ein und lernte dort dessen Pflegetochter Marianne Jung kennen, die 1815 zu Willemers Ehefrau wurde. Zwischen Goethe und Marianne entspann sich bald ein sublimes erotisches Spiel. Man las gemeinsam den persischen Dichter Hafis; die offenkundig Verliebten schickten sich bald chiffrierte Episteln, in denen alphanumerisch verschlüsselt auf Reimpaare aus Hafis’ Schriften verwiesen wurde. So entstanden Teile von Goethes West-Östlichem Divan (1819) aus diesem Briefwechsel.
In diesem ersten Dialog-Gedicht mit Marianne, im September 1815 entstanden, wird ein bekanntes Sprichwort kunstvoll auseinander genommen und gewendet zu einem galanten Liebesbekenntnis. Der Geliebte verliert sein Selbst, um es in der Geliebten wiederzufinden. Der Schluss ist eine Dankbezeugung für die Geduld und Einsicht der Geliebten, deren Augen schimmern wie ein Edelstein (Karfunkel), der aus eigener Kraft im Dunkel leuchtet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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