Joseph von Eichendorffs Gedicht „Es rauschen die Wipfel und schauern,…“

JOSEPH VON EICHENDORFF

Es rauschen die Wipfel und schauern,
Als machten zu dieser Stund
Um die halbversunkenen Mauern
Die alten Götter die Rund.

Hier hinter den Myrtenbäumen
In heimlich dämmernder Pracht,
Was sprichst du wirr wie in Träumen
Zu mir, phantastische Nacht?

Es funkeln auf mich alle Sterne
Mit glühendem Liebesblick,
Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem großen Glück!

1834

 

Konnotation

Gleich zwei romantische Zauberwörter Joseph von Eichendorffs (1788–1857) sind im ersten Vers dieses Liedes verbunden: das „Rauschen“ und das „Schauern“. Das „Rauschen“ tönt meist als Glücksversprechen aus der Natur-Ferne, es verweist als Sehnsuchtsformel auf eine unerhörte Erfahrung, die das empirische Alltagsdasein überschreitet. Das „Schauern“ führt dagegen in Zonen des Dunklen und Geheimnisvollen, es steigt gleichsam von innen in der Seele des Menschen auf Das „Schauern“ meint ein Zurückweichen, aber auch eine Faszination vor dem Unbekannten, das der Nacht zugehörig ist.
Das Lied erschien erstmals 1834 im fünfzehnten Kapitel in Eichendorffs Roman Dichter und ihre Gesellen und wurde 1841 unter dem Titel „Schöne Fremde“ auch in die Ausgabe seiner Gedichte aufgenommen. Der Roman kreist um das Lebensmodell der Frühromantiker, ihr Dasein zu poetisieren und eine dichterische Existenz zu führen. Indes: Die meisten dichterischen Lebensläufe, von denen Eichendorff hier erzählt, sind zum Scheitern verurteilt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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