Jürgen Beckers Gedicht „Das Fenster am Ende des Korridors“

JÜRGEN BECKER

Das Fenster am Ende des Korridors

Der Himmel, die Landschaft, der Fluß:
das Bild am Ende des Korridors.
Links und rechts die Appartements;
die Feuerlösch-Anlage. Das Summen des Aufzugs.
Die Zeit nach Büroschluß. Abweisende Gesichter,
kein Wort und keine Zärtlichkeit.
Jemand wird den Anfang machen
und an seiner Tür vorbeigehen
und weitergehen durch das Bild
hinaus in den Raum zum Fliegen.

1975/1976

aus: Jürgen Becker: Erzähl mir nichts vom Krieg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1977

 

Konnotation

Wenn wir hier dem Blick des Dichters Jürgen Becker (geb. 1932) folgen, geraten wir rasch in eine Wahrnehmungs-Unsicherheit. In scheinbar neutralem Protokoll-Stil werden zunächst die Elemente einer Landschaft aufgezählt, dann schwenkt der Blick ins Innere eines offenbar sehr anonymen Hochhaus-Korridors. Schließlich schieben sich Spekulationen über die Beobachtungen. Am Ende wird eine alte ästhetische Utopie aufgerufen. Es ist das phantastische Motiv vom Verschwinden im Bild. Das Fenster am Ende des Korridors ist zugleich der Bildgrund, durch den wir hindurchgehen in eine unbekannte Zukunft.
Das Fenster als Medium ist häufig Thema in der visuell orientierten Lyrik Jürgen Beckers. Sein um 1975/76 entstandenes Gedicht scheint die berühmte Formel aus Jean Paul Sartres Literaturtheorie zu illustrieren, wonach es sich bei Bildern und Gemälden grundsätzlich um „offene Fenster auf die ganze Welt“ handelt. Hinzu kommt hier noch die Vergegenwärtigung eines Lebensgefühls der Isolation im urbanen Raum der Moderne.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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