Jürgen Theobaldys Gedicht „Vom Vorübergehn der Stäbe“

JÜRGEN THEOBALDY

Vom Vorübergehn der Stäbe

Die Zeitung unter dem Arm gefaltet, den
Zahnstocher hinter der gewölbten Hand
oder scherzend mit den Frauen, so schlendern
in der Mittagspause nach dem Essen
die Angestellten einmal um den Block. Vorbei
am Verwaltungsgebäude, vorbei am Parkplatz
mit der weichen Böschung, mit Gras und Büschen
im Sommer, und die Dächer der Autos
leuchten so still, vorbei am Supermarkt
mit dem herabgelassenen Gitter zwischen eins
und drei. Einmal um den Block jeden Tag
in der Mittagspause nach dem Essen.

1972/1973

aus: Jürgen Theobaldy: Blaue Flecken. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1974

 

Konnotation

Das berühmte „Panther“-Gedicht Rainer Maria Rilkes aus dem Jahre 1902 hat der Dichter Jürgen Theobaldy (geb. 1944) in eine schöne poetische Studie über die Arbeitswelt der spätkapitalistischen Gesellschaften verwandelt. Ursprünglich war die von Theobaldy repräsentierte „Alltagslyrik“ in den 1970er Jahren als Gegenentwurf zur marxistisch-didaktischen Agitprop-Lyrik und zur bieder-gesinnungstüchtigen „Literatur der Arbeitswelt“ angetreten.
Die berühmte Fügung aus dem ersten Vers des „Panther“-Gedichts erfährt bei Theobaldy eine genuin politische Umdeutung. „Vom Vorübergehn der Stäbe“ meint hier die triste Wiederkehr des Immergleichen im Dasein der Angestellten. Bei Rilke war der in einem Käfig gehaltene Panther das Sinnbild aller gefangenen Kreatur. (Vgl. Lyrikkalender vom 6.5.2009) Auch der Alltag von Theobaldys „Angestellten“, der sie einmal am Tag in der Mittagspause „um den Block“ führt, erinnert an eine Käfig-Existenz.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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