Kathrin Schmidts Gedicht „flußbild mit engel“

KATHRIN SCHMIDT

flußbild mit engel

ein ausgepeitschter engel quirlt die spree
sie kniet sich tiefer in die stadt und strudelt
die fetten ratten sind mit tod besudelt
und werfen schatten in den pappelschnee

ich weiß es noch wie wir den engel peitschten
der so nach holz und schöpfung roch und lachte
weil uns der gott von monowitz bewachte
der gott der deutschen und der eingedeutschten

1995

aus: Kathrin Schmidt: flußbild mit engel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1995

 

Konnotation

Engel sind nicht immer die geflügelten Kuriere göttlicher, segensbringender Heilsbotschaften. Sie können auch hindurchgegangen sein durch geschichtliche Verheerungen und apokalyptische Szenerien, können mutieren zum Rache- oder Würgeengel. Das beklemmende Großstadtgedicht der Dichterin Kathrin Schmidt (geb. 1958), das in ein von Unheilsgöttern bevölkertes Berlin führt und von den giftigen Bildern des Expressionismus inspiriert scheint, spricht von grausamen Torturen und einem allgegenwärtigen Tod.
Die allmächtige Instanz, die hier die Gewaltakte überwacht und steuert, wird als „gott von monowitz“ apostrophiert – das verweist auf eine genuin deutsche Barbarei. Denn Monowitz war ein Außenlager des Konzentrationslagers Auschwitz, eine chemische Fabrik, in der die Häftlinge Zwangsarbeit verrichten mussten. Das Rumpf-Sonett (die beiden Terzette fehlen) evoziert in schockierendem Sarkasmus ein Panorama menschlicher Bestialität. Die Unheimlichkeit des 1995 erstmals veröffentlichten Gedichts rührt daher, dass die Verbrechen der Vergangenheit bis in die Gegenwart dieses „Flußbilds“ fortwirken.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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