Kerstin Preiwuß’ Gedicht „einmal sind von anatomischen tischen…“

KERSTIN PREIWUSS

einmal sind von anatomischen tischen
die apokalyptischen reiter durch mein gesicht gezogen
nun ist es verbogen
habe es abgenommen und in eine hand gelegt
kann’s kaum verwinden
dass sie ein stilleben trägt

warte bis mir ein neues wächst
die reiter warten mit mir mit
ihr rückzug steht fest
dann hab ich zwei schalen, eine waage
in die ich mein leben werfen kann
soweit zum Wiedergang

2007/08

aus: poet mag No. 5, Poetenladen Verlag, Leipzig 2008

 

Konnotation

Im biblischen Mythos firmieren sie als furchterregende Boten des Todes: die apokalyptischen Reiter, die ohne jedes Erbarmen die Menschheit mit furchtbaren Geißeln heimsuchen und mit Donnerstimme den Untergang verkünden. In einem Gedicht der jungen Lyrikerin Kerstin Preiwuß (geb. 1980) sind sie zunächst Traumstoff die das Ich und seine Physiognomik gewalttätig überqueren, ein Ich, das von dieser Phantasmagorie des Untergangs an eine elementare Lebenswende geführt wird.
Kerstin Preiwuß, die in Mecklenburg aufgewachsen ist, an „den bewaldeten Seen zwischen Templin und Plau“, und derzeit am Literaturinstitut in Leipzig ein Studium absolviert, vergegenwärtigt in diesem subtil gereimten Traumgedicht eine existenzielle Grenzsituation. Es vollzieht sich eine Art Häutung, eine Neuausrichtung des Subjekts, das vor einer aussichtslosen Situation steht. Denn es kann sich ohne schizophrene Zersplitterung nicht gleichzeitig in die zwei Schalen einer Waage werfen. Der angedeutete Rückzug der apokalyptischen Reiter verheißt dem Ich noch keine Rettung.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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