Klabunds Gedicht „Ein junges Liebespaar sieht sich überrascht“

KLABUND

Ein junges Liebespaar sieht sich überrascht

Wie kam es, dass ich heut betroffen
Im Mondlicht stehen blieb?
Die Pforte eines Parkes sah ich offen,
Ein Jüngling hatte seine Freundin lieb.

Im Buchsbaum schwirrte eines Vogels Fittich,
Die Schnäbelnden erschraken, und es stob
Ins grelle Mondlicht hell der eine Sittich,
Indes der andere sich ins Dunkel hob.

nach 1920

 

Konnotation

Im Bewusstsein, eine sehr begrenzte Lebenszeit vor sich zu haben, verordnete sich der tuberkulosekranke Dichter Klabund (1890–1928) eine immense Produktivität – und den lyrischen Habitus der Leichtigkeit. Je näher die Todesdrohung an den als Alfred Henschke geborenen Apothekerssohn heranrückte, desto lockerer und lästerlicher gab sich seine Dichtkunst. So träumte der Bänkelsänger Klabund gerne vom hedonistischen Augenblick der Liebe, wie in dieser Miniatur aus den 1920er Jahren.
Es ist nicht zu erkennen, ob der Beobachter der Liebenden gelassen oder neidisch auf diese amouröse Schäferszene blickt. Sicher ist nur, dass sich in der zweiten Strophe das Bild des innig sich küssenden Liebespaars überlagert mit dem Bild der „schnäbelnden“ und dann erschrocken aufflatternden Vögel. Klabund, der ganz und gar dem Augenblick hingegebene Vagant, konnte solche Verse in großer Zahl verfassen – und nie entstand beim Leser das Gefühl, dass er es hier mit routinierter Dutzendware zu tun hat.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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