Klabunds Gedicht „Liebeslied“

KLABUND

Liebeslied

Hui über drei Oktaven
Glissando unsre Lust.
Laß mich noch einmal schlafen
An deiner Brust.

Fern schleicht der Morgen sachte,
Kein Hahn, kein Köter kläfft.
Du brauchst doch erst um achte
Ins Geschäft.

Laß die Matratze knarren!
Nach hinten schläft der Wirt.
Wie deine Augen starren!
Dein Atem girrt!

Um deine Stirn der Morgen
Flicht einen bleichen Kranz.
Du ruhst in ihm geborgen
Als eine Heilige und Jungfrau ganz.

1925/26

 

Konnotation

Es war das „Lieblingslied“ des großen Publizisten und Schriftstellers Kurt Tucholsky (1890–1935) – ein paar frivole Verse über die Beglückungsintensität sexuellen Begehrens. Geschrieben hatte sie der mit Tucholsky gleichaltrige poetische Graphomane Klabund (1890–1928), ein lungenkranker Bänkelsänger und Reimkünstler, der die literarische Boheme der Weimarer Republik mit seinen Chansons und leichthändig geschriebenen Gedichten faszinierte.
Als er Mitte der 1920er Jahre sein „Liebeslied“ schrieb, war Klabund, damals der bettelarme Begleiter der Schauspielerin Carola Neher, schon dem Tode nahe. Nie ist der Augenblick sexueller Lust in so lässig-hedonistischen Versen verewigt worden wie bei dem Apothekersohn aus Crossen. Etwas unvermittelt unterwirft der Dichter die begehrte Geliebte im Schlussvers einem verstaubten Frauenbild: Die erotisch Aktive muss wieder einmal „Heilige und Jungfrau“ zugleich sein.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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