Ludwig Harigs Gedicht „Stille Dialektik“

LUDWIG HARIG

Stille Dialektik

Der eine lebt riskant, der andre lebt gesund.
Der erste schöpft sich kühn die nukleare Kraft
aus dem Getreidebrei, aus dem Gemüsesaft
und steigert ganz enorm den Cäsiumbefund.

Der andere ergreift die Flasche aus Burgund,
in der seit Jahr und Tag, geheim und zauberhaft
und lange vor dem GAU der Geist der Rebe schafft.
Er setzt den Römer an und trinkt mit seinem Mund.

Was einmal Trinken war ist seitens der Reklame
abscheulich pervertiert zur Flüssigkeitsaufnahme:
was nutzt ein flacher Schluck in zeitgemäßer Hektik?

Es wirkt der Alkohol aus dem vergornen Treber
erweiternd aufs Gemüt und schrumpfend auf die Leber:
alternativer Hast folgt stille Dialektik.

1986

aus: Ludwig Harig: Hundert Gedichte. Carl Hanser Verlag. München 1988

 

Konnotation

Nach dem verheerenden Atom-Unfall im ukrainischen Tschernobyl im April 1986 schien sich eine alte, dereinst vom Philosophen Theodor Adorno im Blick auf die Menschheitsverbrechen in Auschwitz geschürte Lyrik-Debatte zu wiederholen. „Darf man nach Tschernobyl noch Gedichte schreiben?“: Mit solchen Fragen aktivierten die deutschen Lyriker einen offenbar branchenüblichen Masochismus. Der saarländische Romancier und passionierte Sprachspieler Ludwig Harig (geb. 1927) gab die passende Antwort – mittels lyrischer Artistik.
Dass in einem zeitgenössischen Gedicht auch ein sehr konjunkturabhängiges Wort wie „Cäsiumbefund“ Platz finden kann – Ludwig Harig hat es eindrucksvoll bewiesen.
Zum Glück fehlt seinem Gedicht jene bleierne Schwere, die auf so vielen politischen Gedichten lastet. Auch ist sein Text wohl keine direkte Reaktion auf den Reaktorunfall, sondern eine Auftragsarbeit – für eine 1989 erschienene Textsammlung, die sich mit dem „Rausch“ beschäftigte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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