Ludwig Tiecks Gedicht „Abschied“

LUDWIG TIECK

Abschied

Was ist das Leben? Kommen nur und Schwinden,
Ein Wechsel nur von Nacht und Tageshelle,
Verlust und Schmerz, Sehnsucht und Wiederfinden,
So schwebt durch Traum und Wachen hin die Welle, –
Drum lächelt hoffend in der Trennung Wehen
Durch Abschiedstränen schon das Wiedersehen.

vor 1823

 

Konnotation

Der Handwerkersohn Ludwig Tieck (1773–1853) wagte als einer der ersten Dichter der Romantik um 1794 den kühnen Versuch, sich als freier Schriftsteller zu etablieren. In diese Zeit, in der sich Tieck als „Pumpgenie“ (Arno Schmidt) durchschlug und die 1825 mit seinem Aufstieg zum Hofrat und Dramaturg in Dresden zu Ende ging, fällt sein Ruhm als „König der Romantik“. In diesen Jahren entstand auch sein Konzept der „Volkspoesie“. Neben der Adaption überlieferter Sagenstoffe und Märchen verfasste er zahlreiche Gedichte im Volksliedton.
In diesen sechs Versen, die vor 1823 entstanden sind, hat Tieck das menschliche Dasein als eine Einheit von Gegensätzen beschrieben. Strukturbildend in all den „Wechseln“ ist die Dialektik von Abschied und Wiedersehen. Im Unterschied zu den Dichtern des Barock und ihrem Weltgefühl der Vergänglichkeit zielt Tieck hier demonstrativ auf eine versöhnliche Pointe: dass trotz der schmerzhaften Erfahrungen von Verlust und Abschied am Ende ein „Wiedersehen“ steht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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